Drei Jugendliche gehen am Abend durch eine Unterführung.
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Jugendliche im Fokus Wie kriminelle Gruppen gezielt Minderjährige rekrutieren

Stand: 21.05.2025 13:48 Uhr

Sie sind noch Teenager - und übernehmen Auftragsverbrechen für kriminelle Gruppen. In Europa werden offenbar immer mehr Jugendliche gezielt für schwere Straftaten rekrutiert. Eine Recherche von STRG_F zeigt: auch in Deutschland.

Von Jan Jacke und Mirco Seekamp, NDR

Es ist ein Sonntagabend im Januar 2025 in Hamburg. In einem gut besuchten Café sitzt Rizvan A., 49 Jahre alt, mit seiner Familie und isst Erdbeerkuchen. Kurze Zeit später wird auf ihn geschossen - von einem Jugendlichen.

Der Täter heißt Mike F., 15 Jahre alt, ist offenbar aus den Niederlanden dafür angereist. Er verletzt Rizvan A.und versucht in ein nahe gelegenes Restaurant zu fliehen, wird dann allerdings selbst zum Gejagten: Der Angeschossene und einige Begleiter verfolgen ihn. Im Restaurant wird er gewaltsam zu Boden gebracht, geschlagen, getreten - und später mit zwei Schusswunden in ein Krankenhaus eingeliefert. Bei der Tat wird über den Bezug zum kriminellen Milieu spekuliert.

Adnan Aykac, der Anwalt eines Mitangeklagten, dem vorgeworfen wird, an der Verfolgungsjagd auf den 15-Jährigen beteiligt gewesen zu sein, sagt: "Ich glaube, man wollte verschleiern, woher der Angriff kommt - und deswegen einen außenstehenden Dritten anheuern." Der Anwalt des 15-jährigen Mike F. antwortet nicht auf die Fragen von STRG_F.

Killerjobs auf Social Media

Die Beauftragung und Instruktion Minderjähriger für Straftaten erfolgt oft über soziale Netzwerke. Das zeigt auch ein Fall aus Schweden aus dem Jahr 2024: Ein 15-jähriger Schwede reist nach Dänemark mit dem Auftrag, ein Mitglied einer Rockergruppe zu erschießen. Rekrutiert wurde er offenbar per Jobausschreibung auf einer Social Media Plattform. Es folgten Anweisungen der kriminellen Auftraggeber wie: "Zwei Schüsse in den Kopf - dann ist er tot. 200 %."

Kurz vor der Tat wird der 15-Jährige von der Polizei gestoppt. Aktuell sitzt er im Gefängnis, soll laut Urteil erst 2030 wieder freikommen. STRG_F trifft seine Mutter für ein Interview. Sie erzählt, dass ihr Sohn sich zuletzt von ihr distanziert habe: "Viele Kriminelle nehmen sich gezielt Jugendliche, die sowieso schon Probleme haben, denen es sowieso schon schwer fällt im Leben und heben sie hoch in den Himmel."

Warum gerade Minderjährige?

Jugendliche erhalten geringere Strafen als Erwachsene. Denn sie werden nach Jugendstrafrecht verurteilt. Sie gelten zudem als leichter beeinflussbar, schildert etwa der schwedische Kriminalreporter Diamant Salihu im Interview. Die Kriminellen zielten besonders auf Kinder und Jugendliche, die in irgendeiner Form verletzlich seien: "Manche haben Probleme in ihren Familien, manche haben Schulden." Das Phänomen ließe sich beschreiben als "Crime-as-a-Service"-Kriminalität auf Bestellung, Kriminalität als Dienstleistung. "Anstatt jemanden zu bestellen, der dir dein Essen ausliefert, kann man jemanden bestellen, der deinen Feind ermordet", erklärt Salihu weiter.

Mike F., der 15-jährige Niederländer, der in Hamburg schoss, hatte wohl familiäre Probleme, wohnte in einer Jugendhilfeeinrichtung und war bereits polizeibekannt. Wenige Tage vor der Tat in Hamburg sei er verschwunden. Auf seinem TikTok-Profil postet er zuletzt ein Video von sich. Dazu einen Song mit den Lyrics: "Ich hatte Träume als kleiner Junge. Eines Tages werde ich Millionär."

Wenig später sitzt Mike in U-Haft und wartet auf seine Gerichtsverhandlung im Juli 2025. Die Hamburger Staatsanwaltschaft teilt auf Anfrage mit, es gebe "keine konkreten Hinweise für eine Rekrutierung", aber "Begleitumstände, die für eine Beauftragung sprechen könnten". 

Ein Freund von Mike, der mit 15 Jahren eine elektronische Fußfessel trägt, erzählt STRG_F, wie eine Rekrutierung ablaufen könnte: "Es ist der Boss, der den Job erledigt haben will - und es gibt Leute, die sich nur um die Rekrutierung kümmern." Er selbst behauptet, ein Angebot über 5.000 Euro erhalten zu haben, um einen Juwelier zu überfallen. Das er habe abgelehnt, aus Angst, erneut in Haft zu kommen.

Ermittler sehen Muster - aber kaum Beweise

Kriminologen und Ermittler schlagen diesbezüglich Alarm. Dirk Peglow vom Bund Deutscher Kriminalbeamter schreibt auf Anfrage von STRG_F:  "Die Tat in Hamburg ist ein mahnendes Beispiel dafür, wie wichtig es, die Strukturen der organisierten Kriminalität frühzeitig zu erkennen, zu zerschlagen und die Gesellschaft für diese Gefahren zu sensibilisieren".

In Deutschland gibt es weitere Fälle, die darauf hindeuten könnten, dass Minderjährige länderübergreifend für Straftaten rekrutiert werden: Etwa 2023 nimmt die Polizei unter anderem niederländische Heranwachsende im Hamburger Hafen fest, darunter einen 16-Jährigen. Sie sollen versucht haben, bei einem Einbruch Kokain aus Containern zu bergen.

2024 zündet ein 15-jähriger Tatverdächtiger aus den Niederlanden einen Sprengsatz in Köln. Er flieht zunächst, doch stellt sich ein halbes Jahr später der Polizei. Zwei Tage danach passiert wieder eine Explosion in Köln. Auch hier tatverdächtig: ein Teenager aus den Niederlanden. Laut Medienberichten sei er online gegen Geld rekrutiert worden.

Europol gründet Taskforce

Europas größte Polizeibehörde, Europol, hat eine Taskforce gegründet, an der sich Ermittlungsbehörden aus acht Ländern beteiligen, um gemeinsam gegen die Rekrutierung Minderjähriger vorzugehen. Andy Kragg, Leiter der Abteilung Organisierte Kriminalität bei Europol, hält das Problem für dringlich: "Wir sind gerade noch am Anfang dieses Phänomens. Jetzt ist der perfekte Zeitpunkt für die Taskforce, um dieses Lauffeuer im Keim zu ersticken, bevor es sich in Europa breit macht."

Härtere Gefängnisstrafen allein hält er nicht für zielführend. Europol will unter anderem mit den Online-Plattformen kooperieren, damit Angebote für Mordaufträge sofort gelöscht werden. Und sie wollen die Rekrutierer über die Plattformen aufspüren. Die Kriminellen würden Jugendlichen das Gefühl geben, mitzumachen sei eine coole Sache, doch sie seien nicht die Freunde der Jugendlichen, sagt Kragg: "Die sind weit davon entfernt. Sie sehen dich nur als eine Waffe, die man abfeuern und dann vergessen kann."

Die verschiedenen Plattformen reagieren unterschiedlich auf die Frage, warum Jugendliche auf ihren Plattformen für Straftaten rekrutiert werden. Der Messenger Dienst Signal antwortet nicht auf die Anfrage von STRG_F. Snapchat, Telegram, Meta und TikTok betonen, wie ernst sie das Problem nehmen. Strafbare Inhalte seien schon heute in ihren Richtlinien verboten und würden millionenfach entfernt. Darunter auch Rekrutierungsversuche. Zudem würden sie mit Strafverfolgungsbehörden zusammenarbeiten. Warum Rekrutierungsversuche dennoch auf allen genannten Kanälen zu finden sind - das lassen sie offen.

Zahlen für Deutschland fehlen

Zahlen für Deutschland zur Rekrutierung von Jugendlichen für kriminelle Organisationen fehlen, weil es bislang keine systematische Erfassung gibt. Die Kriminalstatistik 2024 zeigt, dass mehr Gewalttaten bei Jugendlichen registriert wurden. Doch die Hintergründe bleiben meist ungeklärt, weil oft die Beweise fehlen.

Im Koalitionsvertrag der Bundesregierung findet sich im Abschnitt Jugendstrafrecht die Ankündigung einer Studie. Sie soll herausarbeiten, warum die Kinder- und Jugendkriminalität angestiegen ist, und gesetzgeberische Handlungsoptionen aufzeigen. Auf die im Koalitionsvertrag erwähnte Studie verweist auf Anfrage auch das Justizministerium. Das Bundesinnenministerium verweist wiederum aufs Bundeskriminalamt, welches STRG_F erklärt, man wolle sich an der Taskforce von Europol beteiligen, um einem aufsteigenden Trend von "Violence-as-a-service" entgegenzuwirken.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk am 13. Februar 2025 um 09:23 Uhr.