
40 Jahre EU-Freizügigkeit "Kontrollen sind gegen den Spirit von Schengen"
Bewegungs- und Reisefreiheit - seit 40 Jahren ist das im Schengen-Raum möglich. Doch derzeit kontrollieren elf von 29 Staaten ihre Grenzen. Kritiker sagen: Das verstößt gegen den Geist von Schengen. Gefeiert wird trotzdem.
Die Ausgangslage ist schlecht wie nie. Aber das sollte die Stimmung bei der heutigen Bootstour der Europäischen Innenministerinnen und -minister nicht drücken.
Zwölf Kilometer fahren sie auf der Mosel bis zum Anleger im luxemburgischen Örtchen Schengen. Es ist eine Reise zu den Jubiläumsfeierlichkeiten für ein damals revolutionären Projekt: Bewegungs- und Reisefreiheit über die Grenzen der Nationalstaaten hinweg, auf einem Jahrzehnte von Krieg und Feindschaft geprägtem Kontinent. Vor genau 40 Jahren wurde es Wirklichkeit.
Schengen ist eine der größten Errungenschaften unseres europäischen Systems - mit so vielen Vorteilen. Der Schengen-Raum ist das attraktivste Touristenziel der Welt und zieht 40 Prozent aller Touristen an. Deshalb müssen wir auch den Schengen-Geist stärken, der für Offenheit, Freiheit und Sicherheit steht.
In Sachen Spirit haben wir aber ein Riesenproblem, sagt der Gastgeber, Luxemburgs Innenminister Leon Gloden. Vor allem wegen der deutschen Grenzkontrollen: "Die Kontrollen sind gegen den Spirit von Schengen. Man spürt, dass einige Menschen nicht mehr in luxemburgischen Betrieben arbeiten, weil sie jetzt drei bis vier Stunden im Stau stehen", berichtet Gloden. Auch der Oberbürgermeister von Trier haben ihm bestätigt, dass weniger Luxemburger nach Trier zum Einkaufen kommen. "Es ist eine Lose-lose-Situation", sagte er.
Luxemburg hat bereits im Februar Beschwerde bei der EU-Kommission gegen das Vorgehen Deutschlands eingelegt und erwartet dazu im Oktober ein Gutachten. "Wir hoffen sehr, dass auch die Europäische Kommission als Hüterin der Verträge jetzt auch Zähne zeigt."
Hoffen auf den EU-Migrationspakt
Die EU-Kommission aber hält sich derzeit mit öffentlicher Kritik zurück. Denn temporäre, begründete Kontrollen sind schließlich gedeckt von den Schengen-Regeln. Insgesamt elf von 29 Staaten des Schengen-Raums kontrollieren derzeit die eigenen Grenzen. Einige, vor allem Deutschland, auch mit dem Ziel, Asylsuchende an den Grenzen abzuweisen. Insgesamt dürfe das natürlich kein Dauerzustand werden, sagt EU-Innenkommissar Brunner:
Das muss aufhören, selbstverständlich. Und wir müssen unseren Job machen als EU-Kommission. Wir müssen das Europäische Haus in Ordnung bringen. Das tun wir, indem wir den Asyl- und Migrationspakt umsetzen, so schnell wie möglich. Und da fordern wir natürlich auch die Mitgliedstaaten auf, das schneller zu machen.
Darauf setzen viele in Brüssel: Schengen könnte gerettet sein, wenn das Asyl-und Migrationspaket ab Sommer 2026 vollständig greift. Also zum Beispiel mit einem besseren Schutz der Außengrenzen, schnelleren Asylverfahren sowie mehr und schnelleren Abschiebungen.
Die EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen, die die Fäden der Asylpolitik in Brüssel zusammenzuhalten versucht, erklärt den Status quo mit einer Art "Zwischenphase": "Das Dilemma ist zurzeit, dass wir noch nach den alten Asyl-Regeln arbeiten, die - wie wir alle wissen - ihre Mängel haben. Deshalb haben wir den neuen Pakt für Asyl und Migration beschlossen, weil dadurch viele der offenen Fragen gelöst werden."
Enttäuschung über den deutschen Alleingang
Bis dahin werde aber gerade einiges an unnötigem Schaden angerichtet - das empfinden vor allem Bewohner der Grenzregionen. Etwa Pascal Arimont, EU-Abgeordneter aus Ostbelgien, das im Norden an die Niederlande, im Osten an Deutschland und im Süden an Luxemburg grenzt: "Ich habe ein die Befürchtung, dass strengere Kontrollen das Problem an den Binnengrenzen nicht lösen, aber immensen Schaden wirtschaftlicher und politischer Art anrichten können. Ich erlebe das jeden Tag, wir würden die europäische Idee damit sehr schädigen."
Pascal Arimont gehört in Europa zur Parteienfamilie von Kanzler Friedrich Merz und Innenminister Alexander Dobrindt, also der EVP. Seine Enttäuschung über den deutschen Alleingang mag er trotzdem nicht verbergen:
"Dieser Gedanke springt ja dann über: Wenn jemand Europa nicht möchte; wenn jemand europäische Zusammenarbeit nicht möchte. Da findet er genau darin einen Grund zu sagen. Seht ihr, Kontrollen sind ja so schlimm und all das tut uns gar nicht weh." Wenn man dies aber zu Ende denkt, würden aus Grenzkontrollen bald Grenzschließungen. "Und dann haben wir kein Europa mehr."
Nicht nur er hofft also, dass die Schengen-Feierlichkeiten daran erinnern, dass Abweichungen vom EU-Recht keine Petitessen sind.
"Asylpolitik am Limit: Zerbricht Schengen an Grenzkontrollen?" heißt auch die neue Folge des ARD Europa-Podcast "punktEU". Zu hören in der ARD Audiothek und überall wo es Podcasts gibt.