Der Tatverdächtige von Solingen wird von Polizisten abgeführt
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Solingen-Anschlag Planvoll, zielgerichtet - eng abgestimmt mit dem IS

Stand: 22.05.2025 18:00 Uhr

Kurz vor Prozessbeginn zeigen Recherchen von WDR, NDR und SZ, wie sich der mutmaßliche Solingen-Attentäter Issa Al H. auf die Tat vorbereitete und wer ihn anleitete. Auf seine Spur kamen die Behörden offenbar mithilfe des türkischen Geheimdienstes.

Von Manuel Bewarder, WDR/NDR, und Amir Mussawy, NDR

Als Issa Al H. schließlich festgenommen wird, knapp 25 Stunden nach dem Anschlag, da macht er den Polizisten gegenüber offenbar eine Geste: Er soll sich mit einer Hand mehrmals über seine Kehle gefahren sein, dann auf sich selbst gezeigt haben. Die Ermittler meinen, dass er damit wohl eines ausdrücken wollte: Ich bin es, den ihr sucht. Oder juristisch ausgedrückt: Sie werten es als eine geständnisgleiche nonverbale Spontanäußerung. 

Das Ende der Suche nach dem mutmaßlichen Täter des Anschlags, bei dem am 23. August 2024 auf dem Solinger Stadtfest am Fronhof drei Menschen brutal erstochen und neun teils schwer verletzt wurden, war sogleich ein Beginn: der Anfang der Suche nach der Frage, warum der zur Tatzeit 26-jährige Issa Al H. offenbar unbemerkt zur Tat schreiten konnte - zu einer Tat, zu der sich erstmals in Deutschland seit dem Anschlag auf dem Berliner Breitscheidplatz die Terrormiliz "Islamischer Staat" (IS) bekannte.

Prozessbeginn in der kommenden Woche

Jetzt, wenige Tage, bevor am Dienstag der Prozess vor dem Oberlandesgericht Düsseldorf startet, zeigen Recherchen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung (SZ) genauer, wie sich Issa Al H. offenbar über Jahre radikalisierte und sich schließlich in den Tagen vor der Tat wohl eng mit dem IS abstimmte - eine Entwicklung und eine Zuspitzung, von der die Sicherheitsbehörden offenbar erst nach der Tat erfahren haben. 

Bereits Jahre bevor H. nach Deutschland kam, ab 2019, soll al H. im Internet Kampflieder und IS-Informationen gesucht und konsumiert haben. In der Folge soll er die Ideologie verinnerlicht haben. Das wollen Ermittler durch die Auswertung eines seiner Handys herausgefunden haben. H., der ursprünglich aus dem syrischen Deir al-Sor stammt, lebte zu diesem Zeitpunkt wohl in der Türkei oder in der syrisch-türkischen Grenzregion. 

Ende 2022 reiste er über Bulgarien weiter nach Deutschland und beantragte Asyl. Als Grund gab er an, dem Wehrdienst fürs damalige Assad-Regime entkommen zu wollen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) entschied, dass H. zurück nach Bulgarien müsse - in jenes EU-Land, das für die Bearbeitung seines Antrages zuständig war. Auf dem Papier ein ziemlich gewöhnlicher Fall. Dazu passte auch, dass wie so oft die Rückführung scheiterte - und H. schließlich doch in Deutschland bleiben durfte.

Keine Warnzeichen?

Immer wieder werden Menschen zu Attentätern, die bereits zuvor kriminell auffallen - so wie Anis Amri, der Attentäter vom Breitscheidplatz. Nicht so Issa Al H. Bei ihm gab es offenbar den Ermittlungen zufolge keine wirklichen Warnzeichen. Der Recherche zufolge führte der Sicherheitsdienst der Unterkunft, in der er lebte, ein Wachbuch und dokumentierte besondere Vorfälle wie Polizeieinsätze oder Streitigkeiten.

Gelegentliche Polizeieinsätze habe es gegeben, in manchen Zeiten auch mal mehrmals die Woche. Ein direkter Bezug zu Al H. konnte bei der Überprüfung offenbar nicht bestätigt werden. In Medienberichten hieß es, die Sicherheitsfirma sei eingeschritten wegen einer IS-Flagge an H.s Zimmerwand. Erst im Zuge der Ermittlungen soll zumindest eine kleine Papierzeichnung mit IS-Symbolik gefunden worden sein.

Nicht eindeutig klingen Aussagen von Mitbewohnern und Kollegen, die sich nach der Tat gegenüber Ermittlern äußerten. Ein ehemaliger Mitbewohner soll ihn als radikalisiert wahrgenommen haben. Issa Al H. habe bis in die Nacht Videos über islamistische Kriege angeguckt, er sei oft allein auf dem Zimmer gewesen.

Offenbar stetige Radikalisierung

Viele andere haben den Angeklagten Issa Al H. gegenüber den Ermittlern dagegen als unauffällig beschrieben, als eher ruhige Person. Manche, die ihn schon länger kannten, teils bereits aus Syrien, erzählten, er sei ihnen noch nicht mal besonders gläubig erschienen. Er habe wenig gebetet, Zigaretten geraucht und im Ramadan nur zehn Tage gefastet. Issa Al H. habe ziemlich normal gewirkt. Und ja: Er habe viel am Handy gehangen, mit Kopfhörern im Ohr im Bett gelegen.

Seine Radikalisierung schritt offenbar stetig voran. Bereits auf Fotos von 2023 soll er mit erhobenem Tauhid-Finger posiert haben, einem Zeichen der Islamisten.

Niemand in Solingen, weder der Sicherheitsdienst noch Bekannte, bekamen offenbar mit, dass Al H. im Februar 2024 eine eigene Telegram-Gruppe erstellte. Den Ermittlungen zufolge soll er dort Videos mit IS-Bezug verbreitet haben, etwa von Enthauptungen. Oder er veröffentlichte islamistische Propaganda - wenn auch wohl ohne große Resonanz.

Es soll der Gaza-Konflikt gewesen sein, der Issa Al H. seinen Nachrichten zufolge weiter radikalisiert haben soll. Er suchte offenbar im Netz nach Orten wie der israelischen Botschaft in Berlin, nach einer Kapelle in Köln und einem Übungsplatz der Bundeswehr. Als mögliches Angriffsziel? Nicht zwingend, so sollen es die Ermittler bewerten.

Checkliste für Anschläge

Als Issa Al H. sich schließlich ungefähr im Juni 2024 entschlossen haben soll, als "IS-Soldat" in den Jihad zu ziehen, da soll er schon länger in zwei islamistischen Telegram-Gruppen aktiv gewesen sein. Am 19. August schließlich, also vier Tage vor der Tat, erreichten ihn laut Ermittlern über einen IS-nahen Kanal auf Telegram Nachrichten mit einer Art Checkliste, wie man Anschläge verübe.

Wenige Tage später soll Issa Al H. mit dem Administrator der Gruppe in Kontakt getreten sein. Die Ermittler gehen davon aus, dass dieser Mann mit Kampfnamen "Abu Faruq" ein höherrangiges IS-Mitglied sein soll - mit der Aufgabe, bei Anschlagsplänen zu beraten, anzuleiten und zu motivieren.

Eine Auswertung des Accounts durch die Ermittler warf offenbar die Frage auf, ob die Person im Dezember 2024 verstarb - im Grunde scheint der Mann aber für die deutschen Ermittler ein Phantom zu sein.

Zahlreiche Nachrichten ausgetauscht

Rund 60 Nachrichten soll Issa Al H. mit ihm vor der Tat ausgetauscht haben - und dieser soll ihn offenbar in seinem Tatplan bestärkt haben. Ebenso wie zwei weitere unbekannte Islamisten - mit Nutzernamen "Spende!" und "Mikhal". Ihnen schickte er später offenbar auch seine Bekennervideos. 

Die drei Chatpartner sollen ihn auch bei der Auswahl des Tatorts und der Tatwaffe instruiert haben. Al H. soll "Mikhal" etwa ausdrücklich erklärt haben, dass es viele Tote geben werde, sobald es dunkel sei. Dazu soll er Aufnahmen der Solinger Bühne geschickt haben, wo an dem Tag das "Festival der Vielfalt" gefeiert wurde.

Als Issa Al H. im Chat ein Dönermesser präsentierte aus dem Imbiss, in dem er sauber machte, soll "Abu Faruq" geschrieben haben: "Ist es scharf?" Die Größe sei nicht optimal, soll er ihn belehrt haben. "Ich denke, es sollte kürzer und schärfer sein." Kurz vor der Tat kauft er sich offenbar tatsächlich ein neues Messer.

Am 23. August, Freitagabend, gegen 21.37 Uhr, geht es dann los. Aussagen und eine Videoaufnahme belegen offenbar, dass Al H. dabei mehrmals "Allahu Akbar" gerufen haben soll. Eine Minute - nicht länger - sollen die Attacken gedauert haben; dann war der Täter erstmal wieder weg.

Wo war H. bis zur Festnahme?

Wann und wo sich Al H. bis zu seiner Festnahme am Samstagabend genau aufhielt, das wissen die Ermittler offenbar auch heute noch nicht. Am Samstagmorgen um 8.30 Uhr findet ein Spaziergänger eine Jacke mit Geldbörse und Ausweisdokumenten von Issa Al H. - und übergibt sie einem Polizisten. Beamte gehen in jenen Stunden mehreren Personen und Hinweisen nach. Schon vor neun Uhr gibt es auch die erste Festnahme - es ist ein anderer Mann. Aber die Dokumente, die auf den mutmaßlichen Täter H. hinweisen, spielen zunächst offenbar eine untergeordnete Rolle. 

Das ändert sich offenbar schlagartig, als am Nachmittag nach Informationen von WDR, NDR und Süddeutscher Zeitung wohl wie aus dem Nichts der entscheidende Hinweis auf Al H. durch einen türkischen Nachrichtendienst zu deutschen Behörden kam - inklusive Foto. Anschließend, so zeigen es interne Zeitabläufe, tragen auch die deutschen Behörden alle Informationen zu al H. zusammen.

Um 20.11 Uhr folgt dann die Durchsuchung seiner Wohnung. Um 22.32 Uhr wird er schließlich an einem zentralen Platz in der Solinger Innenstadt, dem Entenpfuhl, verhaftet. Im Internet veröffentlichte der IS bald darauf auch das Bekennervideo.

Al H. soll keine Angaben zur Sache gemacht haben

In den Vernehmungen nach der Tat soll Al H. keine Angaben zur Sache gemacht haben - sein Anwalt wiederum wollte sich auf Anfrage erst nach Prozessbeginn äußern. Es gilt bis zu einem Urteilsspruch die Unschuldsvermutung. 

Ausführlich hat al H. wohl nur mit einem Psychiater gesprochen. Demnach, so soll Al H. es dem Psychiater berichtet haben, hätte der Kontakt im Internet sein Gehirn mit religiösen Inhalten gewaschen. Er sei manipuliert worden. Der Anschlagsplan sei spontan über ihn gekommen.

Die Bundesanwaltschaft nimmt das Issa Al H. den Recherchen zufolge nicht ab. Der psychiatrische Gutachter soll zu dem vorläufigen Ergebnis gekommen sein, dass al H. schuldfähig sei. Er habe planvoll und zielgerichtet gehandelt.