
Thüringen Kein Geld, keine Wohnung: Thüringer Strategie gegen Wohnungslosigkeit nimmt Fahrt auf
Wer in Thüringen arm ist oder aus der Haft kommt, hat ein Problem. Es gibt zu wenige Sozialwohnungen - schnell kann Wohnungsnot drohen. Die Landesregierung will das ändern und plant eine Bestandsaufnahme.
Karl ist kein Schwerverbrecher. Mehrmaliges Schwarzfahren, ohne die Strafe zu bezahlen, und eine in Wut eingetretene Tür haben ihn hinter Gitter gebracht. Nach vier Monaten war der Erfurter wieder draußen. Da er vor der Haft bei seiner Ex-Freundin wohnte und nach seiner Entlassung keine neue Wohnung fand, blieb ihm nur die Obdachlosenunterkunft.
"Es zieht runter. Ich bin zwar untergebracht, aber es ist halt nichts Angenehmes. Ich habe keinen Freiraum für mich", erzählt er. "Ich bekomme Hilfe - das ist nicht das Problem. Aber es ist einfach furchtbar traurig, so zu leben."
Karl ist kein Einzelfall. 3.145 Wohnungslose gab es nach Angaben des Statistischen Bundesamtes 2024 in Thüringen. Die Dunkelziffer aber dürfte deutlich höher sein, da nicht alle Betroffenen in Notunterkünften übernachten und so auch nicht erfasst werden.
Fehlende Wohnungen gefährden die Resozialisierung
Etwa 300 der Wohnungslosen sind Haftentlassene wie Karl. Für René Bernuth, den Vorsitzenden der Landesarbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe, ein Unding. Ihm zufolge ist eine Wohnung wichtig für die Resozialisierung:
"Ich werfe Thüringen vor, dass im politischen Raum das Themenfeld Wohnungs- und Obdachlosigkeit keine Rolle mehr spielt, obwohl in Artikel 15 der Thüringer Verfassung steht, dass angemessene Wohnungen vorzuhalten sind - jeder ein Recht auf Wohnraum hat. Das haben nicht alle Bundesländer so verankert - außer Thüringen nur noch Bayern und Bremen. Das ist etwas Besonderes - doch es wird nicht umgesetzt!"
Viele können kein selbstbestimmtes Leben beginnen. Stephan Panhans | Paritätische Wohlfahrtsverband Thüringen
Ähnlich sieht es der Paritätische Wohlfahrtsverband Thüringen, der dabei zusätzlich Betroffene im Blick hat, die aus Frauenhäusern und anderen Schutzeinrichtungen ausziehen wollen. Stephan Panhans ist Parität-Geschäftsführer: "Viele dieser Menschen können aufgrund des Mangels an bezahlbaren Wohnungen kein neues, selbstbestimmtes Leben beginnen." Aus seiner Sicht müssten auch strukturelle Hürden bei der Beantragung solcher Wohnungen fallen, der Zugang niedrigschwelliger werden.

Der Geschäftsführer des Paritätischen Stephan Panhans (links) und René Bernuth von der Landesarbeitsgemeinschaft Straffälligenhilfe im Gespräch mit einer Betreuerin des Haftentlassenen.
Bestandsaufnahme der Wohnungslosigkeit geplant
Schon die rot-rot-grüne Landesregierung arbeitete an einer Landesstrategie gegen Wohnungslosigkeit, aber bislang gibt es nicht einmal einen Überblick über die Schere zwischen tatsächlichem Bedarf und bestehenden Hilfsangeboten in den Kommunen.
Das will die Brombeer-Koalition ändern: Noch vor der Sommerpause will Sozialministerin Katharina Schenk einen entsprechenden Kabinettsbeschluss einbringen. Die Bestandsaufnahme soll die Basis für die Landestrategie bilden und alle notwenigen Maßnahmen daraus abgeleitet werden.
"Als Landesregierung haben wir uns das Ziel gesetzt, die Wohnungslosigkeit bis 2030 zu beenden. Dazu stehen wir und das ist eine Gemeinschaftsaufgabe", erklärt die SPD-Politikerin. Auf die Landestrategie zur Beseitigung der Wohnungslosigkeit warten neben den Sozialverbänden auch die Kommunen.

Thüringens Sozialministerin Katharina Schenk von der SPD will eine Wohnungs-Bestandsaufnahme umsetzen.
Gemeindebund: Auch psychisch Kranke betroffen
Steffen Kania ist Präsident des Gemeinde- und Städtebundes. Er beobachtet, dass neben Menschen mit wenig Geld und den Haftentlassenen auch psychisch Kranke und Menschen mit Suchterkrankungen betroffen sind: "Wir haben zunehmend Menschen, die von Wohnungsgesellschaften zwangsgeräumt werden."
Wegen hoher Mietschulden oder sozialer Konflikte sei das sicherlich gerechtfertigt. "Aber auch da fällt es uns zunehmend schwer, geeignete Unterbringungsmöglichkeiten zu finden. Manche Kommunen lösen das, indem sie Obdachlosenunterkünfte anbieten. Manche helfen über Notwohnungen, die angemietet werden. Aber generell muss man feststellen, dass Wohnungslosigkeit in Thüringen ein zunehmendes Problem ist."
Konkurrenz in Erfurt besonders hoch
Besonders große Konkurrenz um die günstigen Wohnungen registriert Erfurt. Geringverdiener, Geflüchtete und Studenten - sie alle brauchen die Sozialwohnungen, in die auch Haftentlassene wie Karl gern ziehen würden. Zur Vermeidung von Obdachlosigkeit, so ein Sprecher der Erfurter Stadtverwaltung, würden hier deshalb Unterbringungseinrichtungen und Notschlafstellen vorgehalten.
Zusätzlich gibt es Einrichtungen für Menschen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten. Die Plätze hier seien jedoch sehr nachgefragt und begrenzt. Die Landeshauptstadt arbeite deshalb bereits an einer entsprechenden Bestands- und Bedarfsanalyse, wie sie sich der Freistaat wünscht.

Aktuell gibt es im Freistaat weniger als zwölftausend Sozialwohnungen und jedes Jahr fallen weitere rund 1000 davon aus der Preisbindung.
Auch die Stadtverwaltung Suhl konstatiert erhebliche Probleme bei der Vermittlung eigenen Wohnraumes für die Betroffenen, meldet aber ausreichende Kapazitäten in ihrer Notunterkunft.
Entspannter sieht es noch in Gera aus. Die etwa 15 bis 20 Haftentlassenen in Gera finden nach Angaben der Stadt noch Wohnungen oder zumindest einen Platz in Obdachlosenunterkünften.
"Obdachlos" oder "wohnungslos"?
Die Begriffe Obdach- und Wohnungslosigkeit werden oft gleichgesetzt oder verwechselt. Wohnungslosigkeit ist der Überbegriff für "Wohnungsnotfälle", wie sie fachlich heißen.
Wohnungslos sind generell Menschen, die keinen festen Wohnsitz haben. Also auch diejenigen, die zwischenzeitlich bei Bekannten, Verwandten oder auch Einrichtungen der freien Wohlfahrtspflege unterkommen können. Obdachlos bedeutet, dass Menschen bis auf Notunterkünfte überhaupt keine Unterkunft zur Verfügung haben, sondern im öffentlichen Raum schlafen.
Mietschuldner nicht gern bei Wohnungsunternehmen gesehen
Der Verband der Thüringer Wohnungswirtschaft (VTW) sieht eine der Herausforderungen darin, dass sich all diese Probleme auf die größeren Städte konzentrieren. Auch die Haftentlassenen suchten vor allem hier nach Wohnungen.
Wir haben zwar viele freie Wohnungen aber eben nicht in den Ballungsräumen. Frank Emrich | Thüringer Wohnungs- und Immobilenwirtschaft
"Wir haben zwar viele freie Wohnungen", sagt Verbandsdirektor Frank Emrich, "aber eben nicht in den Ballungsräumen. Und dann müssen wir natürlich gucken, wie unsere Hausgemeinschaften gestaltet sind. Also machen wir es wie bei der Integration von Geflüchteten, versuchen sie so dazwischen zu setzen, dass man keine Schwerpunktbildung hat. Damit die Hausgemeinschaften, wie sie jetzt existieren, auch zukünftig gut zusammenleben können. Das ist ein schwieriger Abwägungsprozess."
"Zur Wahrheit gehört aber auch", fügt Emrich hinzu, "dass viele der Betroffenen bereits Mietschulden anhäuften - die Wohnungsunternehmen aber wirtschaftlich arbeiten müssen."

Frank Emrich, Vorstand Thüringer Wohnungs- und Immobilenwirtschaft
Sozialministerin Schenk sagt, dass all diese Aspekte für die Landestrategie zur Beseitigung der Wohnungslosigkeit bedacht werden müssten. Und dass Personengruppen mit besonderen Problemlagen, wie Sucht oder psychischen Erkrankungen, berücksichtigt werden müssen: "Neben sozialem Wohnungsbau und der Bereitstellung entsprechender Unterkünfte durch die Kommunen geht es dabei auch um sozialpädagogische Ansätze und Präventionskonzepte."
Karl hofft auf neuen Job
Solche Unterstützungsangebote könnten auch Karl helfen. Er träumt davon, wieder aus Obdachlosenunterkunft ausziehen zu können.
Er hat bereits die Erfahrung gemacht, dass seine jetzige Adresse bei Bewerbungsgesprächen nicht so gut ankommt. Karl würde gerne wieder in seinem Beruf als Kellner arbeiten.
MDR (dst)