Spielszene - DNT Weimar: "Wir sind das Volk"

Thüringen Ganz Weimar auf der Bühne: "Wir sind das Volk" am DNT

Stand: 19.05.2025 10:43 Uhr

Das Deutsche Nationaltheater Weimar zeigt als letzte Inszenierung unter der Intendanz von Hasko Weber im großen Haus "Wir sind das Volk". Die Uraufführung bringt Lebensgeschichten Weimarer Bürgerinnen und Bürger auf die Bühne. Regisseurin Luise Voigt, die gerade noch zum Berliner Theatertreffen eingeladen war, gelingt es auf unterhaltsame wie tiefgründige Weise, Phänomene wie Ostalgie oder Wahlverhalten neu herzuleiten. Am Samstag hatte das Stück Premiere.

Von Stefan Petraschewsky, MDR Kulturdesk
  • Für "Wir sind das Volk" wurden Interviews mit 50 Weimarer Bürgerinnen und Bürger aus unterschiedlichen Milieus geführt.
  • Auf der Bühne werden sie von Schauspielern verkörpert und ihre Aussagen zu Szenen verdichtet.
  • Die Inszenierung von Luise Voigt markiert auch das Ende der Ära unter Intendant Hasko Weber.

"Wir sind das Volk" fokussiert nicht auf 1989 oder 2025. Man muss es größer fassen. Es geht um unsere Wurzeln, hier in Weimar um die Klassiker, mindestens aber um Weimarer Republik, Nationalsozialismus und um die DDR-Zeit. Auch um Sorgen und Ängste der Nachwendezeit bis heute. Und da kommen Gegenwart und Zukunft ins Spiel.

Dokumentarisches Theater auf Interview-Basis

Diesem Theaterabend liegt eine Recherche zu Grunde. Regisseurin Luise Voigt und Dramaturgin Eva Bormann haben zwischen Dezember 2023 und Januar 2025 insgesamt 50 Interviews geführt. Das besondere: Es gab keine Fragen, sondern nur einen kurzen Text von Bernard-Marie Koltès, der den Menschen als winzigen Punkt im Universum vorstellt. Dann wurde der jeweilige Gesprächspartner gebeten, frei zu assoziieren.

Spielszene: Das Ensemble streicht langsam über die dunkle Bühne, Blick zum Publikum. Das Bild wirkt bedrohlich.

Bei der neuen Inszenierung am DNT Weimar bringt Luise Voigt "Volkes Stimme" auf die Bühne.

So kam man ins Gespräch, landete über Themen wie Corona, AfD, Überforderung im Alltag bei den persönlichen Lebensgeschichten. Die 50 Leute, die befragt wurden, sind zunächst Menschen aus dem öffentlichen Leben. Unter anderem die ehemaligen Ministerpräsidenten Bodo Ramelow und Thomas Kemmerich, der Vorsitzende der jüdischen Landesgemeinde Reinhard Schramm, Jens-Christian Wagner, der die Gedenkstätte Buchenwald leitet. Dazu dann verschiedene lokale Größen aus Weimar und sozusagen Volkes Stimme wie eine Bäckerin, eine Pflegerin, eine Kinderärztin, ein ehemaliger Neonazi, zwei Geflüchtete aus der Ukraine, zwei Obdachlose, ein Universitätsprofessor.

Ein Manko: eine exponiert rechte Position wurde bei der Auswahl offenkundig nicht einbezogen, wiewohl rechte Positionen naturgemäß als Volkes Stimme immer auch dabei sind. Die älteste Gesprächspartnerin, ein ehemalige Ensemblemitglied des DNT, ist 1929 geboren, der jüngste 2008. Ein Jahrhundert fast.

Nur ganz dezent, aber treffsicher, kommentiert Regisseurin Luise Voigt das arrangierte Tonmaterial. Stefan Petraschewsky |

Schauspieler verkörpern thüringer Bürger

Diese Interviews werden zu thematischen Clustern verdichtet und von fünf Schauspielerinnen und sechs Schauspielern aus dem Ensemble vorgetragen, die jeweils mehrere Personen verkörpern. Zu Beginn der Vorstellung wird angesagt, dass alle Schauspieler versuchen werden, den Text der Interviews exakt nachzusprechen, inklusive Pausen, Atemholen und anderer Besonderheiten. Alle Schauspieler tragen dann Mikroports und können dadurch sehr leise sprechen. Alle werden per Video auf einer Leinwand im Bühnenraum vergrößert.

Spielszene: Eine Schauspielerin mit roter Jacke und blonder Perücke spricht zum Publikum, während ihr Gesicht hinter ihr auf eine Landwand übertragen wird.

Von Schauspielern interpretierte Interview-Aussagen finden ihren Weg als vergrößertes Mimikspiel auf die Leinwand.

Damit kommt ein Verfremdungseffekt ins Spiel, der enorme Anziehungskraft entfaltet. Die Interviews waren reine Tonaufnahmen. Die Schauspieler müssen sich also das Bild zum Ton dazu erfinden. Sie leiten aus dem Ton Gesten und Haltungen ab, die den Text noch einmal verstärken. Die Schauspieler wollen dabei niemanden kopieren. Mit Perücken, Brillengestellen, Kleidung versucht man aber Ähnlichkeiten herzustellen. Was mit wenigen, oft zeichenhaften, Requisiten auch gut gelingt.

Dazu kommt immer eine Soundspur. Am Anfang ist es ein Techno-Beat und ein Refrain: "Sag mir die Wahrheit!" Später, wenn die Interviewschnipsel immer mehr thematisch gebündelt werden, entstehen ganze Szenen. Ein Rentnerpaar sitzt vor seinem Haus im Garten: er vor dem Fernseher; sie, die meist redet, guckt in die Kamera. Einmal steht das Haus auf dem Kopf, als die Rentnerin erklärt, sie fühle sich im Leben wie bei Kafka. Im Hintergrund bellt ein Hund.

Spielszene: Eine ältere Frau und ein älterer Mann hocken mit dem Rücken zueinander. Er versunken in den Fernseher. Sie mit Blick zum Publikum.

Gartenszene mit Rentnerpaar und TV-Beschallung.

Regisseurin aus Nordhausen

Nur ganz dezent, aber treffsicher, kommentiert Regisseurin Luise Voigt das arrangierte Tonmaterial. Meist hält sie sich mit Kommentaren zurück; bewertet das, was da gesagt wird, nicht. Es ist ein dokumentarisches Arbeiten. Man merkt, dass die Regisseurin, die 1985 in Nordhausen geboren ist, vom Hörspiel kommt, ihr Handwerkszeug aus diesem Genre mitbringt, und ihre Ästhetik für die Bühne daraus ableitet. Sprache wird Maske, Maske Figur, aus der Konstellation der Figuren schließlich Szene und Bühnenraum.

Der Abend hat eine strenge ästhetische Form. Diese Strenge erzeugt aber auch Konzentration. Genauigkeit im Spiel. Das Publikum hängt an den Lippen der Schauspieler. Die strenge Form fängt auch gut auf, was hier zur Sprache kommt, eine große Verunsicherung. Vieles fußt in der unmittelbaren Nachwendezeit, als nicht nur wirtschaftlich alles drunter und drüber ging, sondern im privaten Umfeld nicht klar war, wem man noch vertrauen kann.

Spielszene: Das Ensemble auf der dunklen Bühne, über ihnen eine Projektion der Erde.

Ein symbolisch aufgeladenes Bühnenbild verankert Weimar fest im Universum.

Die Bühne selbst ist im Grunde genommen leer und schwarz ausgehangen. Nur hinten ein weißer Prospekt als Leinwand. Dort werden nächtliche Straßenszenen, besagtes Rentneridyll, aber auch das Universum immer wieder projiziert. Vorne wird aus dem Schnürboden oft eine kreisrunde Leinwand herabgelassen, vielleicht fünf Meter im Durchmesser groß, auf der dann die Personen vergrößert erscheinen, manchmal auch der Mond.

Auf der Bühne selbst ist eine Art Kräuterspirale in schwarz wie ein Weg in eine Mitte aufgebaut. Es könnte die Mitte des Universums sein. Ein Sockel, auf dem der Mensch seinen Platz findet. Ganz vorne, links und rechts, sind noch zwei schwarze Kästen hingestellt, auf denen eingeblendet wird, wer da spricht, welchen Beruf und welches Alter er oder sie hat.

Abschied von Intendant Hasko Weber

"Wir sind das Volk" ist ist im Grunde genommen auch ein passender Abschied. Intendant Hasko Weber geht zum Ende der Spielzeit. Seine Chefdramaturgin Beate Seidel bleibt noch übergangsweise. Aber das ist hier die letzte Premiere im großen Haus auf der großen Bühne. Und diese Art Theater war prägend für diese Ära, von der man hier sprechen kann. Hasko Weber und Beate Seidel haben immer wieder versucht, das, was die Leute denken und fühlen, oft aus der DDR abgeleitete Nachwende-Biografien, auf die Bühne zu bringen.

Was 2013 begann, endet nun mit dieser Inszenierung und beweist, wie Theater als Seismograph für gesellschaftliche Entwicklungen wirken kann. Stefan Petraschewsky über die Amtszeit Hasko Webers |
Intendant Hasko Weber steht 2017 auf dem Balkon des Deutschen Nationaltheater in Weimar

Generalintendant Hasko Weber verlässt nach dieser Spielzeit das DNT Weimar.

Die Verortung im Hier und Jetzt, in Weimar, in Ostdeutschland hat immer eine Hauptrolle gespielt. Das war in Texten von Dirk Laucke oder Thomas Freyer so. Das war in einem "Wilhelm Tell" 2019, oder auch in zwei "Faust"-Inszenierungen 2013 und 2024 herauszuhören. Aber auch in der Oper: in einer "Aida" von Andrea Moses 2021, die Überfremdung thematisierte.

Oder 2015, als Volker Lösch Verdis "Räuber" nach Schillers Drama inszeniert und dabei ebenfalls "Originalton" aus Weimar beziehungsweise aus Thüringen auf die Bühne brachte: Karl, Franz und Amalia kamen so, ein Jahr nach der Gründung von Pegida, als junge Generation auf die Bühne, die entweder nach extrem links oder extrem rechts abdriftete, früh Hass und Hetze versprühte – eine prophetische Lesart! Was 2013 begann, endet nun mit dieser Inszenierung und beweist, wie Theater als Seismograph für gesellschaftliche Entwicklungen wirken kann.

Spielszene aus "Faust": eine schwarze Gestalt in der Mitte der Bühne reicht zwei rot gekleideten Gestalten kreuzüber die Hand.

Szene aus "Faust I" von 2024, in dem Hausregisseur Jan Neumann dem deutschen Nationaldrama auf den Zahn fühlte.

Standing Ovations am DNT Weimar

"Wir sind das Volk" ist auf Dissonanz und Reibung angelegt, wenn hier sehr unterschiedliche Meinungen aufeinanderprallen, das, was wir heute als Hass und Hetze erleben oder als digitale Blasen beschreiben. Es ist aber eine produktive Reibung, weil am Ende – und das war in der Premiere deutlich zu merken – eine Sehnsucht nach Toleranz und mehr Gemeinsamkeit aufkam. Nach etwas, das entstehen kann, wenn man den Begriff der Wahrheit neu fasst und mehrere Wahrheiten nebeneinander zulässt. Dieser Gedanke, in einem Epilog explizit vorgestellt, stand hier am Ende.

Das war die eine Botschaft. Dazu kam ein Gedanke, eine Frage: Könnte das kritisierte Wahlverhalten der Ostdeutschen damit zu tun haben, dass sie feine Antennen dafür ausgebildet haben, die früh warnen, wenn Politik weniger den Sachargumenten folgt und mehr einer neuen Ideologie?

Spielszene: Im Hintergrund ist ein Satellit zu sehen, im Vordergrund schwebt eine Person kopfüber und auf dem Rücken so positioniert, dass sie auf dem Satelliten zu sitzen scheint.

Wilder Ritt auf dem Satelliten. In "Wir sind das Volk" wird Meinungsbildung auf unterschiedlichen Wegen hergeleitet.

Am Ende dieser gut dreieinhalbstündigen Inszenierung, die in keinem Moment langweilig war und leer lief, gab es enthusiastischen Applaus, Standing Ovations. Da hat sich offenkundig eine utopische Kraft von der Bühne auf das Publikum übertragen. Und als die interviewten Gesprächspartnerinnen und -partner zum Applaus auf die Bühne gerufen wurden, war es für einen kurzen Moment greifbar, dass sich Bodo Ramelow, Thomas Kemmerich und Jens-Christian Wagner – mit allen anderen zusammen an den Händen halten.

Informationen zum Stück

"Wir sind das Volk"
Weimarer Lebensgeschichten gesammelt und für die Bühne arrangiert von Luise Voigt und Eva Bormann – Uraufführung am 17. Mai 2025

Regie: Luise Voigt
Bühne und Kostüm: Maria Strauch
Stückdauer: 3 Std. 40 Min. 

Nächste Vorstellungen:
Samstag, 24. Mai, 19:30 Uhr
Sonntag, 1. Juni, 16:00 Uhr

Adresse:
Deutsches Nationaltheater Weimar
Großes Haus
Theaterplatz 2
99423 Weimar

Redaktionelle Bearbeitung: lm, hro