Teilnehmer einer Nazi-Demonstration der so genannten „Deutschen Jugend Voran“ (DJV) in Berlin-Mitte

Nordrhein-Westfalen Soziologe: Radikalisierung bei Jugendlichen "epidemisch ausgebreitet"

Stand: 10.06.2025 15:59 Uhr

Die rechtsextremistische Szene in Deutschland ist nach Einschätzung des Bundesamts für Verfassungsschutz deutlich gewachsen - darunter sind auch viele junge Menschen. Wir sprechen mit einem Soziologen über die Gründe für das Abgleiten in den Rechtsextremismus.

Bundesinnenminister Alexander Dobrindt (CSU) hat bei der Vorstellung des aktuellen Verfassungsschutzberichts von einem "dramatischen Befund" gesprochen. Das sind zentrale Ergebnisse:

Verfassungsschutzbericht: Radikalisierung von Jugendlichen l Aktuelle Stunde

  • In den vergangenen zehn Jahren hat sich die rechtsextreme Szene um mehr als 20.000 Menschen vergrößert. Das sogenannte Personenpotenzial im rechtsextremistischen Bereich liegt demnach aktuell bei über 50.000. Das Personenpotenzial umfasst Menschen in Parteien, in parteiunabhängigen Organisationen wie Kameradschaften und solche, die keiner Organisation angehören.
  • Die Zahl gewaltorientierter Rechtsextremisten beziffert der Verfassungsschutz auf 15.300, fast 1.000 mehr als im Vorjahr.
  • Laut Verfassungsschutzbericht wuchs auch das Personenpotenzial in der linksextremen Szene – auf 38.000. Als gewaltorientiert werden davon unverändert mehr als 11.000 eingeschätzt.
  • Im Bereich Islamismus registrierte der Verfassungsschutz ein Personenpotenzial von rund 28.000 Menschen, davon werden etwa 9.500 als gewaltorientiert eingeschätzt.

Verfassungsschutz: Politischer Extremismus spricht zunehmend Jugendliche an

Alexander Dobrindt (r.) und Sinan Selen bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2024

Sinan Selen und Alexander Dobrindt bei der Vorstellung des Verfassungsschutzberichtes 2024

Laut dem Vizepräsidenten des Bundesamtes für Verfassungsschutz, Sinan Selen, spricht der politische Extremismus zunehmend Jugendliche an: "Wir sehen immer jüngere Menschen, die sich online radikalisieren, angeleitet werden und mitunter zu Aktionen übergehen." Die Verfassungsschützer beobachten den Trend sowohl im Bereich des Islamismus als auch des Rechtsextremismus. Auch das Bundeskriminalamt beobachtet eine verstärkte Radikalisierung von politisch rechten Jugendlichen.

Vermummte Polizisten und Polizeiautos bei Razzia in Brandenburg

Razzia bei mutmaßlicher rechter Terrorzelle

Erst im Mai hatte die Bundesanwaltschaft fünf Jugendliche im Alter von 14 bis 18 Jahren festnehmen lassen. Sie wirft ihnen die Mitgliedschaft beziehungsweise Unterstützung einer terroristischen Vereinigung vor. Doch wieso werden 14-Jährige zu gewaltbereiten Rechtsextremisten? Wir haben darüber mit David Begrich gesprochen. Er ist Soziologe und Theologe und arbeitet bei der Arbeitsstelle Rechtsextremismus beim Verein Miteinander in Magdeburg mit.

WDR: Herr Begrich, was triggert diese jungen Menschen?

David Begrich: Ich glaube, man muss sich noch mal anschauen, was Jugendliche und junge Erwachsene in den letzten fünf bis sieben Jahren erlebt haben, was ihre Sozialisation bestimmt hat. Und das kann man eigentlich in einem Wort zusammenfassen, nämlich "Krise". Da kann sich jetzt jeder Erwachsene in seinem eigenen Kopf mal die Krisen zusammenstellen.

Und gleichzeitig hat während dieser Krisen eine Flucht ins Internet stattgefunden, also in die Sozialen Medien. Und dort gibt es im Grunde genommen einen Klick weit entfernt alle Zutaten, die für Radikalisierung wichtig sind: Es gibt Gewaltvideos, es gibt emotionale Politikvideos, es gibt so etwas wie eine Flut von persönlicher Ansprache von rechtsextremen und anderen extremistischen Influencern, die Jugendliche ganz direkt, ganz emotional ansprechen.

Das heißt, wir haben es eigentlich mit einem Wechselwirkungsverhältnis der Tatsache zu tun, dass wir einerseits Identitätsangebote im Internet haben, die Jugendliche sehr direkt erreichen. Und wir haben in den letzten Jahren das Fehlen von Vergemeinschaftungserfahrungen in der Realität erlebt.

Was wäre denn ein Beispiel für solch eine emotionale Ansprache von Jugendlichen im Netz?

Schauen Sie sich doch mal die Videos von rechtsextremen Influencern aus dem Umfeld der AfD an oder auch Videos, die Gewalt propagieren, die dann oft nur einen Klick weit entfernt sind. Wenn man sich etwa militante Neonazi-Gruppen ansieht, die sich beispielsweise radikalisiert haben im Kontext der Proteste gegen die Christopher-Street-Day-Paraden im vergangenen Jahr. 

Also all das wird ja heutzutage nicht mehr nur auf der Straße abgebildet in der Realität, sondern es gibt ein direktes Wechselwirkungsverhältnis mit dem Geschehen im Internet. Und die Wirkungsweise ist immer zweifach: einmal in der Realität auf der Straße und danach die Wirkung des Videos, das reichweitenstark durch die Sozialen Medien gespielt wird.

Bundesinnenminister Dobrindt ist der Meinung, die Menschen vor Ort – also zum Beispiel Familie, Schule, Verein – müssten hier aktiver sein, weil sie am ehesten mitbekommen, wenn sich jemand radikalisiert. Wie sind Ihre Erfahrungen mit der Aufmerksamkeit der Menschen vor Ort?

Ich glaube, die Aufmerksamkeit ist schon gegeben, aber es braucht dann auch Ressourcen, um so etwas bearbeiten zu können. Ich gebe mal ein Beispiel: Wenn ich mir anschaue, was von Lehrerinnen und Lehrern heutzutage alles erwartet wird, neben der Tatsache, dass sie Mathematik und Deutsch unterrichten sollen, welche Prozesse sie begleiten und steuern sollen, dann ist das auch eine Überforderung.

Das heißt im Umkehrschluss, wenn wir wollen, dass Jugendliche und junge Erwachsene gut ins Leben starten, dann brauchen sie Begleitung, dann brauchen sie Unterstützung und dann brauchen sie nicht nur politische, sondern auch Aufmerksamkeit, die professionell ist. 

Wir brauchen gute, professionell ausgestattete Jugendarbeit und Begleitung. Das ist die beste Extremismusprävention.

David Begrich

Warum haben wir diese Jugendarbeit nicht? Man kann sich die Bundesverfassungsschutzberichte der vergangenen Jahre anschauen. Da wird das Problem auch schon geschildert. Ist der Staat in seiner Unterstützung dieser Präventionsarbeit nachlässig?

Das glaube ich nicht. Wir haben ja diese Strukturen, aber wir haben natürlich auch damit zu tun, dass sich bestimmte Formen von Radikalisierung bei Jugendlichen und jungen Erwachsenen wirklich epidemisch ausgebreitet haben. Ich will Sie nochmal erinnern an den Brandbrief, den einige Lehrerinnen und Lehrer aus dem Land Brandenburg im vergangenen Jahr geschrieben haben, wo sie gesagt haben, ihnen wächst diese Radikalisierung und die Bewältigung dieser Radikalisierung tatsächlich auch über den Kopf.

Und es ist natürlich nicht nur, aber auch eine Geldfrage, und es ist auch eine Sensibilisierungsfrage. Das heißt, es braucht die Sensibilisierung des sozialen Umfeldes, es braucht die Aufmerksamkeit, es braucht aber auch die Bereitschaft, Grenzen zu setzen. Also die Sozialisation von Jugendlichen und jungen Erwachsenen funktioniert im Wechselwirkungsspiel zwischen sich ausprobieren und Grenzerfahrungen. Zu sagen, es gibt Grenzen, an die müssen sie sich halten und die müssen dann tatsächlich auch durchgesetzt werden. Und ich glaube, dieser Mechanismus muss stärker in den Vordergrund treten.

Unsere Quellen:

Hinweis der Redaktion: Wir haben das Interview mit David Begrich zur besseren Lesbarkeit an mehreren Stellen sprachlich leicht angepasst.