
Nordrhein-Westfalen Hilfslieferungen in Gazastreifen: "Tropfen auf den heißen Stein"
Seit Anfang März blockiert Israels Regierung Hilfslieferungen in den Gazastreifen. Jetzt gibt es vereinzelte Lieferungen. Doch reicht das?
Für den Generalsekretär der Hilfsorganisation CARE Deutschland, Karl-Otto Zentel, sind die wenigen zugelassenen Lieferungen eine "politische Geste" und "ein Tropfen auf den heißen Stein", wie er am Dienstag im Interview mit dem WDR 5-Morgenecho erklärte.
WDR: Stehen da vollbepackte LKWs, die jetzt nur darauf warten, dass sie in den Gazastreifen fahren können oder wie müssen wir uns das vorstellen?

Karl-Otto Zentel
Karl-Otto Zentel: Da stehen schon lange viele voll bepackte LKWs, die darauf warten, in den Gazastreifen fahren zu dürfen – auch während der ganzen Zeit der Blockade der vergangenen 60 Tage. CARE hat Hilfsgüter im Wert von 1,5 Millionen um den Gaza-Streifen bereitstehen, die sobald sich eine Möglichkeit ergibt, in den Gazastreifen zu den bedürftigen Menschen gebracht zu werden. Die UN spricht davon, dass sie nahezu 9.000 LKW-Ladungen an Hilfsgütern bereitstehen haben.
Also es ist jetzt keine Frage der Hilfsgüter, die in der Region sind oder in der Nähe sind, es ist eine Frage des Zugangs. Es ist eine politische Geste. Die Zahlen, die im Raum stehen, von 100 LKW – und das auch nur für vier Tage – sind ein Tropfen auf den heißen Stein, sind eigentlich eine Frechheit gegenüber der Not, die in dem Gazastreifen herrscht und bedecken bei weitem nicht den Bedarf der Menschen.
WDR: Sind das dann die ersten 100 LKWs, die in der Schlange stehen oder koordinieren Sie sich da mit den anderen Hilfsorganisationen?
Zentel: Da ist die Datenlage sehr dünn. Es gibt einige Aussagen und wie die sich realisieren lassen, das heißt, dass ein Großteil der LKW durch das Welternährungsprogramm geschickt werden können. Wer dann die anderen LKWs schickt, also ob die UNICEF zum Beispiel Nahrungsmittel und Hilfsgüter für Kinder schicken kann, das ist mir nicht bekannt. Das ist also eine Koordinationsabsprache mit den israelischen Autoritäten.
WDR: Wenn das alles erstmal nur für vier Tage geöffnet wird, was heißt das dann für Ihre weitere Arbeit? Bereiten Sie sich darauf vor, dass es immer wieder solche Fenster geben wird?
Zentel: Diese Fenster sind keine Lösung für die Notlage der Bevölkerung in Gaza. Es muss einen dauerhaften Zugang für humanitäre Hilfe in den Gazastreifen geben. Das humanitäre System, die Vereinten Nationen und die Organisationen, die in der Region tätig sind, können die nötige Hilfe leisten. Das steht außer Frage. Aber wir müssen Zugang haben. Wir müssen aber auch einen Waffenstillstand haben, also Sicherheit für die Helfer.
Diese Ankündigung der israelischen Regierung, vier Tage lang jeweils 100 LKW in den Gazastreifen einreisen zu lassen, ist nicht verbunden mit einem Ende der Kampfhandlungen. Das heißt, alles, was da geschieht, ist mit einem extrem hohen Risiko für die Helfer verbunden und es sind ja auch schon mehr als 400 humanitäre Helfer in diesem Konflikt getötet worden.
WDR: Die israelische Regierung hat auch angekündigt, sie wolle die Kontrolle über den gesamten Gazastreifen. Das ist das Ziel dieser Offensive. Würde das bedeuten, dass dann auch die israelische Regierung für die Versorgung verantwortlich ist? Denken Sie auch in längerfristigen Perspektiven?
Zentel: Nach internationalem Recht ist eine Besatzungsmacht verantwortlich für die Versorgung der Bevölkerung in den Gebieten, die sie unter Kontrolle hat. Das heißt, die israelische Regierung ist nach internationalem Recht schon sehr lange eigentlich verantwortlich für die Versorgung der Menschen im Gazastreifen - zumindest große Teile des Gazastreifens.
WDR: Wie schätzen Ihre Partner vor Ort die Lage gerade ein?
Zentel: Sie ist dramatisch. Die letzten Berichte, die wir über die Ernährungszustände der Menschen bekommen haben - gerade auch Kinder, schwangere Frauen, ältere Menschen – sind alarmierend. Und diese Zahlen, die Daten wurden erhoben vor der Blockade. Die sind also schon alt und längst nicht mehr aktuell. Die Situation ist viel, viel schlimmer. Das Welternährungsprogramm musste seine Bäckereien schließen, weil kein Brennstoff und kein Mehl mehr da war. CARE unterstützt ein Gesundheitszentrum. Die Medikamente reichen nur noch wenige Wochen.
Auch unsere Mitarbeitenden, die noch in Gaza sind, leiden unter der Situation. Wenn wir Teams-Gespräche haben, ist deutlich sichtbar, dass auch unsere Kollegen im Gazastreifen hungern. Und da ist es auch nicht mit Mehl getan. Da braucht es auch für Kinder spezielle Kindernahrung - für ältere Menschen und auch für schwangere Frauen. Das ist eine sehr politische Geste, die da stattfindet.
WDR: Wie ist das eigentlich völkerrechtlich, wenn Hilfsgüter festgehalten werden und man gleichzeitig sieht, was das für Folgen hat, also wenn man Bilder von unterernährten Kindern und Menschen sieht? Und Netanjahu spricht ja selbst davon, dass das Massenhungern von den Verbündeten nicht mehr toleriert würde.
Zentel: Dazu gibt es inzwischen ja klare Stellungnahmen der Außenminister oder von England, Frankreich und den Niederlanden, die gesagt haben, dass dieser Zustand in keiner Weise akzeptabel ist, dass sofort und ohne jede Verzögerung ungehinderter Zustand für humanitärer Hilfsgüter eingeräumt, möglich gemacht werden und die nötige Sicherheit des Personals hergestellt werden muss. Das geht nur mit einem dauerhaften Waffenstillstand, der natürlich auch beinhalten muss, dass die noch verbliebenen Geiseln freigelassen werden. Das ist eine Voraussetzung.
Dieses Interview lief am 20.05.2025 im WDR 5 Morgenecho. Es wurde für diese Online-Fassung sprachlich leicht angepasst und gekürzt.