Anna und Jürgen Groth bei ihrer Hochzeit 1956

Mecklenburg-Vorpommern Jahrhundertliebe: Die Geschichte von Anna und Jürgen Groth

Stand: 09.06.2025 00:00 Uhr

Anna und Jürgen Groth aus Rostock tanzen seit über 70 Jahren gemeinsam durchs Leben. Beide erleben die Schrecken und Entbehrungen des Zweiten Weltkrieges. Ihr Motto: "Zufrieden sein mit dem, was man hat."

Von Kathrin Jarohs und Stefanie Grossmann

Ein Blick reicht aus, um ihre Liebe im Jahr 1953 zu entfachen. Doch drei Jahre leben sie ihre Liebe auf Distanz, sind verbunden durch Briefe. Jürgen wohnt in Rostock und Anna in Sachsen-Anhalt. Dann zieht sie 1956 zu ihm. Das Rezept für ihre Jahrhundertliebe: Zufriedenheit, Kompromissbereitschaft und körperliche Nähe. Jeden Morgen und Abend eine halbe Stunde kuscheln. Mittlerweile sind Anna und Jürgen 69 Jahre verheiratet. Und genauso lange lebt das Paar in Rostock.

Als Kinder und Jugendliche bekommen die beiden die Schrecken des Zweiten Weltkrieges mit. Jürgen erlebt als Elfjähriger die Bombardements auf Rostock. Anna die Vertreibung aus der Heimat, dem Sudetenland. Dass sie sich gefunden haben, ein Glücksfall: "Wir hatten nicht viel, aber wir hatten uns", erzählen sie dem NDR in der Dokumentation "Jahrhundertliebe" 2025.

Weitere Paare der "Jahrhundertliebe" vom 9. Juni 2025:

Flucht: "Wir mussten innerhalb einer Stunde gepackt haben"

Anna Groth, geborene Beranek, kommt am 20. Oktober 1934 in Laas (heute Láz), im Sudetenland in einer bäuerlichen Großfamilie zur Welt. Sie verlebt eine schöne Kindheit, bis die Familie Hals über Kopf flüchten muss. 1946 verlassen sie ihre Heimat, das heutige Tschechien, aufgrund der sogenannten Beneš-Dekrete. "Wir mussten innerhalb einer Stunde gepackt haben. 30 Kilo pro Person", schildert Anna rückblickend. Ihr Vater wird noch vermisst. Sie wissen nicht, ob er überhaupt noch lebt. Annas Familie kommt in ein Lager in der Kreisstadt, dort müssen sie ihre Papiere abgeben: Dokumente über Grund- und Bodenbesitz sowie Sparbücher. Nach sechs Monaten in Lagern bekommt die Familie ein kleines Zimmer in Sachsen-Anhalt, gemeinsam mit anderen Familien. Zu acht leben sie auf engstem Raum. Schließlich kommen sie nur von dort weg, weil der Vater aus der Gefangenschaft zurückgekehrt ist. Er hat in Osterburg bei Stendal bereits wieder Arbeit auf dem Land gefunden und die Familie über den Suchdienst des Roten Kreuzes ausfindig gemacht.

Anna Groth als junge Frau

Verlust von Hab und Gut: Anna Groth muss als Jugendliche mit ihre Familie aus dem Sudetenland fliehen.

"Zwei Stunden später lagen alle tot in Schutt und Asche"

Jürgen Joachim Theodor Groth kommt am 10. Dezember 1931 in Dargun zur Welt. Er wächst als Sohn eines Kolonialwarenhändlers auf. Im Zweiten Weltkrieg zieht er mit der Mutter und vier Geschwistern nach Rostock. Im Alter von elf Jahren erlebt er 1942 die Bombenangriffe der britischen Luftwaffe auf die Hansestadt. Wegen der Heinkel-Werke gilt Rostock als eine Hochburg der Rüstungsindustrie. Als Jugendlicher muss Jürgen mit ansehen, wie Freunde sterben. "Um 12 Uhr haben wir - 13, 14 Jahre alt - noch zusammengespielt. Mädchen und Jungen. Zwei Stunden später lagen alle tot in Schutt und Asche." Die Folgen der Angriffe: 60 Prozent der Innenstadt sind kaputtgebombt. Es gibt Hunderte Tote, Tausende Menschen sind obdachlos.

Anna und Jürgen Groth wissen, was Hunger bedeutet

Beide wissen durch ihre Erlebnisse, was das Wort Hunger bedeutet: "Wir haben Tage, Monate und sogar Jahre gehungert", beschreibt Jürgen den Mangel im Krieg und nach Kriegsende rückblickend. Bei Jürgens Großeltern in Dargun gibt es gekochte Kartoffelschalen. Die Familie sammelt junge Stare aus Nestern, so groß ist der Hunger. Der 18-jährige Jürgen ist mittlerweile Bäckerlehrling - ein Rat seiner Mutter, um das Überleben der Familie zu sichern. Für Mehl und Brot bekommt er auf dem Schwarzmarkt linksgewebte Damenstrümpfe mit Naht, die er nach Berlin schmuggelt und verkauft. Von dem Geld erwirbt er Schuhe oder ein schickes Hemd.

Jürgen Groth arbeitet als Gesundheitsinspektor im Überseehafen Rostock.

Nach dem Studium arbeitet Jürgen Groth als Gesundheitsinspektor im Überseehafen.

Jürgen absolviert schließlich ein Studium und arbeitet als Hygieniker. In dieser Funktion ist er als Gesundheitsinspektor im Überseehafen Rostock beschäftigt.

Liebe auf den ersten Blick beziehungsweise Tanz

Am 25. September 1953 lernen sich Anna und Jürgen im Urlaub in der Oberlausitz kennen. Anna ist 18 und mit drei Freundinnen unterwegs, Jürgen mit einem Freund. Schon bei der Anmeldung im Ferienquartier macht es "Zoom". "Sie hatte ein nettes Lächeln im Gesicht", erinnert sich Jürgen. Er sei gut angezogen gewesen, so Annas Erinnerung. Schon am ersten Abend kommen sich die beiden beim Tanzen näher. Als Jürgen Anna im Arm hält, weiß er: "Ich möchte sie wiedersehen." Die gelernte Hauswirtschafterin lebt damals noch in Sachsen-Anhalt. Sie arbeitet in einem Krankenhaus, vom ersten Gehalt kauft sie ihren Eltern Tisch und Stühle.

Drei Jahre Liebe auf Distanz

Es ist zunächst eine Liebe auf Distanz: Drei Jahre lang schreiben sie sich innige Briefe, jede Woche einen. Das sei Schwerstarbeit für ihn gewesen, erzählt Jürgen rückblickend mit einem Augenzwinkern. Anna hat alle aufgehoben, Jürgen nicht. Das trägt sie ihm doch noch ein bisschen nach. Sie erzählen sich in den Briefen, was sie täglich erleben - und manchmal blitzt sogar Jürgens romantische Ader auf: "Verzeihe mir du kleine Süße, mein Streichel und mein Kuss ist ja nicht mein Verschulden, dass ich dich lieben muss." Als "schmalzig" empfindet Anna die Worte heute - und lacht. Aber Jürgen meint, er sei so verliebt gewesen. "Das könnt ihr euch gar nicht vorstellen." Das sei er heute noch.

Auf allen Vieren in die Wohnung gekrabbelt

Nach drei Jahren holt Jürgen seine Anna an die Ostsee. Die Hochzeit findet am 21. April 1956 statt. Ihre ersten Möbel sind Marke Eigenbau. Aus Holzstämmen basteln sie Tischfüße, eine Kastenmatratze fungiert als Bett. In ihr kleines Zimmer kriechen sie auf allen Vieren. "Wir waren beide so glücklich, dass wir eine kleine Wohnung hatten", resümiert Jürgen die Anfänge ihrer Ehe. Im November 1956 kommt Sohn Rüdiger zur Welt. Thomas und Martina komplettieren den Kindersegen. Die drei sind ihr größter Stolz.

Hochzeitsfoto von Anna und Jürgen Groth (1956)

Anna und Jürgen Groth heiraten 1956.

1958 ziehen sie in eine 65 Quadratmeter große Wohnung in Rostock. Dort leben Anna und Jürgen bis heute - umsorgt von ihren drei Kindern, sechs Enkeln, und geliebt von acht Urenkeln.

Nach der Wende reisen die Groths um die Welt

Zu DDR-Zeiten näht Anna sich viele Kleider selbst. Jürgen hat sie sogar mal mit einer Nähmaschine überrascht. Inspiration holt sie sich in ostdeutschen Frauenzeitschriften und im DDR-Fernsehen. Anna macht sich gerne schick für ihren Jürgen. Und: Selbermachen liegt damals voll im Trend, um up to date zu sein. Außerdem ist es günstig. Nach der Wende reist das Paar um die Welt. Jedes Mal sucht Jürgen seiner Anna dafür ein besonders schickes Outfit aus. Die beiden ziehen sich gerne schick an, das ist schon immer selbstverständlich für das elegante Paar. Selbst zum Spazierengehen. "Weil wir das einfach mögen", sagt Jürgen.

Sie sind in Sachen Liebe ein Vorbild für ihre Familie

Seit Jürgen Rentner ist, packt er mit im Haushalt an. Er staubsaugt, morgens deckt den Kaffeetisch und räumt ab. Mit dem Abwasch habe er allerdings nichts zu tun. Sonntag ist traditionell Familientag bei den Groths. Alle kommen, weil sie das sensationelle Gulasch von Anna mögen oder einfach nur zum Kaffeeplausch. In Sachen Liebe und Verbundenheit sind sie das Vorbild für ihre Familie. "Sie sind meine durchgeknallten Alten", sagt die Tochter voller Bewunderung. Sie seien immer unterwegs. Anna und Jürgen planen Urlaube an der Ostsee, allein oder mit Freunden, und ihre Tanzausflüge. Ihr Fitnessprogramm: täglich ein Spaziergang in ihrem Kiez und mindestens einmal die Woche tanzen.

Gnadenhochzeit: Eheversprechen nach 70 Jahren wiederholen

Nach 72 Jahren tanzen Anna und Jürgen zum ersten Mal wieder nach dem Lied, zu dem sie sich ineinander verliebt haben: "Da draußen am Hafen" von Lale Andersen. Tango, Walzer, Wange an Wange, so lieben es die beiden. Und obwohl Jürgen vor drei Jahren einen Schlaganfall und einen Herzinfarkt gehabt hat, lassen sie sich das Tanzen nicht nehmen. Verliebt wie am ersten Tag sind sie immer noch: Stets suchen sie die Hand des anderen, immer wieder küssen sie sich.

Anna und Jürgen Groth

Bekräftigung ihrer Liebe nach 65 Jahren: In der Heiligen-Geist-Kirche wiederholen Anna und Jürgen Groth ihr Eheversprechen.

An ihrem Hochzeitstag gehen sie alljährlich in die Kirche, in der sie getraut wurden. Zur Eisernen Hochzeit, nach 65 Jahren Ehe, haben sie sich in der Kirche noch einmal das Ja-Wort gegeben. Zur Gnadenhochzeit wollen sie das Eheversprechen wiederholen.

Dieses Thema im Programm:
NDR Fernsehen | 09.06.2025 | 18:00 Uhr