
Mecklenburg-Vorpommern 8.000 Sanktionen in MV - Druck auf Bürgergeld-Empfänger soll wachsen
Ob HartzIV oder Bürgergeld: Seit 20 Jahren bekommen Menschen in Deutschland eine Grundsicherung. Union und SPD wollen den Druck auf die Empfänger nun erhöhen. Dies werde mehr Menschen in die Armut treiben, sagen Kritiker.
Bundestagwahlkampf Mitte Februar: In der ARD-Wahlarena hatte CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz auf die Frage, wie die Pläne seiner Partei finanziert werden sollen, eine Antwort: Er will Kosten sparen beim Bürgergeld – wer nicht arbeiten wolle, aber arbeiten könne, soll keins mehr bekommen. Knapp zwei Monate später steht das auch so im Koalitionsvertrag von Union und SPD: "Bei Menschen, die arbeiten können und wiederholt zumutbare Arbeit verweigern, wird ein vollständiger Leistungsentzug vorgenommen." Allerdings steht dahinter noch der Zusatz: "Für die Verschärfung von Sanktionen werden wir die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beachten."
Sanktionen - eine Frage der Menschenwürde
Denn in seinem bekannten "HartzIV-Urteil" erklärte das Bundesverfassungsgericht schon 2019: Ja, der Gesetzgeber darf von den Empfängern fordern, dass sie aktiv daran mitwirken, wieder einen Job zu bekommen und auch Sanktionen aussprechen, wenn sie das nicht tun. Weil es aber um das vom Grundgesetz geschützte Existenzminimum geht, also eine Frage der Menschenwürde, dürfen die Sanktionen nicht zu weit gehen. Kürzungen von 60 Prozent oder gar ein vollständiger Leistungsentzug sind verfassungswidrig.
Schwesig: "Fördern und fordern"
Laut Koalitionsvertrag sollen die Sanktionen künftig "schneller, einfacher und unbürokratischer" durchgesetzt werden. Mit Blick auf das Urteil des Gerichts lässt sich das nicht mit höheren Sanktionen, sondern nur mit mehr Sanktionen umsetzen. Die künftige Bundesregierung möchte also, dass mehr Bürgergeld-Empfängern der Regelsatz von derzeit 563 Euro gekürzt wird. Es sei richtig, sich wie bisher an dem Grundsatz "fördern und fordern" zu orientieren, erklärte Ministerpräsidentin Manuela Schwesig (SPD) am Donnerstag nach einer Veranstaltung der Arbeitsagentur Nord. Das System müsse so aufgestellt sein, dass Menschen die Hilfe brauchen sie bekommen, aber "diejenigen, die arbeiten können, aber sich verweigern, nicht die gleiche Unterstützung bekommen." Doch wie viele Menschen würde das tatsächlich betreffen?
Keine Statistik über "Totalverweigerer"
Die Statistik liefert die Zahl von sogenannten "Verweigerern" nicht, der Begriff ist vor allem politisch. In Mecklenburg-Vorpommern haben im vergangenen Jahr rund 83.400 Menschen Bürgergeld bezogen - sie gelten als erwerbsfähig, stehen dem Arbeitsmarkt also theoretisch zur Verfügung. Doch der Blick auf die sogenannten "Vermittlungshemmnisse" zeigt, dass für viele ein Acht-Stunden-Tag kaum möglich ist.
Etwa jeder Fünfte der Bürgergeld-Empfänger in Mecklenburg-Vorpommern arbeitet bereits und bezieht nur ergänzend Bürgergeld. Mehrere tausend betreuen außerdem minderjährige Kinder, pflegen Angehörige oder sind erkrankt.
Jobcenter entscheiden im Einzelfall
Helena Steinhaus findet deshalb schon das Wort "verweigern" falsch. Ihr Verein "Sanktionsfrei" unterstützt seit mehr als zehn Jahren die Empfänger von HartzIV und Bürgergeld. Diese hätten auch gute Gründe Jobangebote abzulehnen zum Beispiel, weil sie sich nicht mit den Betreuungszeiten von Kindern und Angehörigen vereinbaren lassen, sagt Helena Steinhaus: "Ein Arbeitsangebot lehnt man nicht einfach so ab, dann liegt ein triftiger Grund vor. Aber ob dieser Grund anerkannt wird oder nicht, liegt im Ermessen des Sachbearbeiters oder der Sachbearbeiterin im Jobcenter". Das gelte auch für die Einhaltung von Terminen, die das Jobcenter festlegt. Viele Menschen, die bei ihr Hilfe suchen, würden unter Angststörungen leiden und deshalb nicht einmal die Post des Jobcenters öffnen können. "Auch wenn man über die Mitwirkung sprechen kann, sind verpasste Termine noch lange keinen Grund, einer Person die Existenzgrundlage anzukratzen", findet Helena Steinhaus.
Etwa 8.000 verhängte Sanktionen in MV
Doch schon ein verpasster Termin kann Grund für die Kürzung des Bürgergeldes sein. Im vergangenen Jahr war die Zahl der verhängten Sanktionen in Mecklenburg-Vorpommern vergleichsweise gering: Bei den 83.400 Bürgergeld-Empfängern wurden in etwa 7.100 Fällen Gelder gekürzt, weil sie zu den Terminen des Jobcenters nicht erschienen sind. In 430 Fällen wurden die Empfänger sanktioniert, weil sie einen Job oder eine Weiterbildung abgelehnt oder abgebrochen haben.
Wirkung von Sanktionen sind umstritten
Wie effektiv Sanktionen sind, um Menschen in Arbeit zu bringen, ist umstritten. Mit Blick auf die Pläne von Union und SPD erklärt der Geschäftsführer der Arbeitsagentur Nord Markus Biercher: "Sanktionen für diejenigen Menschen, die sich nicht an Regeln halten, sind im Einzelfall sinnvoll und daraus haben wir nie einen Hehl gemacht." Dass schon die Möglichkeit einer Sanktionierung dazu führt, dass die Menschen schneller einen Job annehmen, belegt eine Studie des Institutes für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung der Bundesagentur für Arbeit. Demgegenüber stehen allerdings mehrere Studien, die zeigen, dass diese Jobs dann häufig schlecht bezahlt sind oder nicht der Qualifikation der Menschen entsprechen - und deshalb auch schnell wieder aufgegeben werden. Sanktionen wirken also, aber nur kurzfristig.
Grundsicherung bleibt politischer Daueraufreger
Die verschärften Sanktionen würden aus Sicht von Helena Steinhaus damit mehr Menschen in schlecht bezahlte Jobs zwingen und in die Armut treiben: "Wir bestrafen kollektiv Menschen, weil es angeblich ein paar gibt, die sich weigern zu arbeiten. Diese Erzählung stimmt nicht und sie hat fatale Auswirkungen auf alle Menschen im System und auch alle diejenigen, die bereits arbeiten und schlechte Löhne und schlechte Arbeitsbedingungen haben." Die Kernfragen der politischen Debatte bleiben damit dieselben wie in den vergangenen 20 Jahren: An welche Bedingungen ist die Grundsicherung geknüpft? Was müssen Menschen für ein Existenzminimum leisten? Wie die Koalition ihre Pläne dafür schließlich ins Gesetz schreibt, ist noch offen. Ein kompletter Leistungsentzug, wie noch im Wahlkampf von der CDU gefordert, hat allerdings schon jetzt absehbare Grenzen.
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NDR 1 Radio MV | Nachrichten aus Mecklenburg-Vorpommern | 24.04.2025 | 19:30 Uhr