
Hessen Tischtennis-Star Timo Boll geht: Mehr als nur eine Weltkarriere
Timo Boll beendet an diesem Wochenende seine Laufbahn. Deutschlands bester Tischtennis-Spieler aller Zeiten blickt nicht nur auf eine Weltkarriere zurück, er war auch abseits der Platte ein ganz besonderer Star.
Wer verstehen will, warum Timo Boll mehr als nur Deutschlands bester Tischtennis-Spieler aller Zeiten ist, der muss zum Mai 2005 zurückgehen. Damals, im WM-Achtelfinale gegen den Chinesen Liu Guozheng, hatte der Odenwälder Matchball. Ein Punkt noch, dann wäre das Viertelfinale erreicht, einer der schwersten Gegner besiegt und ein großer Schritt zum ersehnten WM-Titel geschafft. Was dann passiert, ist außergewöhnlich: Eine Rückhand von Guozheng landet vermeintlich im Aus. Doch Boll reagiert sofort und signalisiert, dass der Ball noch auf der Platte war.
"Ich hätte das Spiel durch diesen Streifschuss gewonnen. Der Schiedsrichter hatte es nicht gesehen, aber das hätte sich verdammt schlecht für mich angefühlt", erinnert sich Boll in einer hr-Doku zum Abschied der Tischtennis-Legende. "Ich habe das Spiel dann verloren. Das hat weh getan, ich hätte eine sehr gute Chance gehabt, ganz weit zu kommen. Aber hätte, wenn. Es war die richtige Entscheidung. Und der trauere ich auch nicht nach."
Eine Weltkarriere made in Odenwald
Boll wird für diese Ehrlichkeit später mit einem Fair-Play-Preis geehrt. Nur eine von vielen Trophäen, die der am 8. März 1981 in Erbach im hessischen Odenwald geborene Tischtennis-Profi in seiner fast 30-jährigen Karriere errang. Vier Medaillen bei Olympia (2x Silber und 2x Bronze im Team), 15 EM-Siege im Einzel und Team, dazu acht WM-Medaillen, Champions-League-Siege und noch vieles mehr schmücken den Lebenslauf des heute 44-Jährigen, der seine Karriere an diesem Wochenende beim Final-Turnier um die deutsche Meisterschaft endgültig beendet.
In drei Kalenderjahren war er die Nummer 1 der Welt, das erste Mal mit 22 Jahren, das letzte Mal im Jahr 2018 mit 37. Damit ist Boll der älteste Weltranglistenführende aller Zeiten. Oder wie er es selbst ausdrückte: "Ich bin die älteste, aber sicher auch die langsamste Nr.1 aller Zeiten." Es war diese Art, die Boll sich immer erhielt. Sportlich stand er auf einer Stufe mit den Größten Deutschlands, den Nowitzkis, Schumachers oder Ullrichs. Aber menschlich blieb er immer der bescheidene Junge aus Höchst im Odenwald.
Wohmobil statt Jetset
"Ich bin einfach ein normaler Höchster. Ich glaube, die Leute hier haben das nie so realisiert, dass ich in der Sportwelt bekannt bin. Die behandeln mich immer wie einen normalen Menschen und das ist auch gut so", sagt Boll. In die Glamour-Welt hat es ihn nie gezogen. "Wenn ich irgendwie eine Gala absagen konnte, dann habe ich das auch getan. Es ist mal schön, in so eine Welt einzutauchen, aber ich musste da schnell wieder raus", erklärt er in der hr-Doku – und sitzt dabei in seinem Wohnmobil in Düsseldorf. Während andere Profi-Sportler seiner Kategorie gerne in Yachten vor Ibiza urlauben, verbringt Boll seine Freizeit im Camper.
Auslöser war die Flugangst seiner Frau Rodelia Jacobi, mit der er bereits seit 2003 verheiratet ist und die immer eine enorme Stütze für ihn war. "Wir haben es einmal getestet und es war unser schönster Urlaub." Seitdem gilt also: Camping statt Jetset – und das trifft nicht nur im Urlaub zu, sondern auch für sein normales Leben bei seinem langjährigen Club Borussia Düsseldorf. "Ich habe meine Wohnung in Düsseldorf mittlerweile vermietet und wohne direkt neben der Halle im Wohnmobil."
Eine verrückte Vision
Richtig begonnen hat die unglaubliche Karriere von Boll im Jahr 1989. Damals entdeckte der hessische Landestrainer Helmut Hampl den kleinen Timo bei den Jahrgangsmeisterschaften in Wetzlar und förderte ihn. Seitdem ist die Karriere Bolls untrennbar mit Hampl verknüpft. Der Coach war es, der eine Vision für das Supertalent entwickelte und mit dem Modell Höchst-Gönnern ganz neue Wege beschritt.
"Wenn wir mit Timo etwas erreichen wollen, dürfen wir ihn nicht aus seinem Elternhaus nehmen", war das Credo Hampls. Und so holte er nicht den dann 15 Jahre alten Youngster zum Bundesliga-Team, sondern das Team zu Boll. Der TTV Gönnern, Bundesliga-Club aus Marburg-Biedenkopf, wurde ins 170 Kilometer südlich gelegene Höchst umgepflanzt. Boll wohnte weiter daheim und die Mannschaft zog in den Odenwald. "Das war mir in dem Moment gar nicht so sehr bewusst, dass das so eine besondere Konstellation ist", sagt Boll heute. "Das ist mir schon fast unangenehm darüber zu sprechen, dass ich damals so undankbar war."
Ein Weltstar in China
Mit dem heutigen Bundestrainer Jörg Roßkopf wurde damals ein Mentor geholt. "Ich wurde dafür verpflichtet, damit er zu dem begnadeten Gefühl, das er hatte, auch lernt, wirklich extrem hart zu arbeiten", erklärt Rosskopf. Überhaupt, dieses Gefühl für den kleinen Ball, das war es, was Boll immer ausmachte. "Ich habe immer ein besonderes Talent gehabt, den Ball zu streicheln", sagt Boll über seine spektakuläre Spielweise, die ihm im Profi-Zirkus den Namen "Magic" einbrachte.
Dieses Talent erkannte Hampl und setzte auf ihn. Es war Hampls Vision – und Boll lieferte. Bereits mit 17 Jahren wurde er Deutscher Meister, mit 21 Jahren folgten EM-Titel, World-Cup-Siege und dann im Jahr 2003 der erstmalige Sprung an die Spitze der Weltrangliste. Dabei besiegte er auch die Stars aus dem Mutterland des Tischtennis, China, und wurde so selbst in Asien ein Promi. Während Boll wahrscheinlich auf der Frankfurter Zeil kaum beachtet wird, kennt ihn in China jeder. "Man kann sich nicht vorstellen, was da los ist. Er kann im Endeffekt nicht über die Straße gehen", erzählt Hampl.
Applaus zum Abschied
Ganz so extrem war das auch in Deutschlands Tischtennis-Szene nie, aber welche Rolle Boll hier für den Sport spielte und spielt, erkennt man an der Abschiedstournee, die der Superstar dieses Jahr gibt: jede Partie ausverkauft, immer Standing Ovations und emotionale Reden. Für das Bundesliga-Finale in Frankfurt musste die Arena-Kapazität kurzfristig aufgestockt werden. Timo Bolls Abschied wollen sich die Fans nicht entgehen lassen.
Doch trotz all dieser Erfolge, trotz der vielen Siege gegen Chinas Beste, der ganz große Triumph, ein Einzel-WM- oder Olympiasieg blieb ihm immer verwehrt. Gebremst von Verletzungen, groß aufspielenden Konkurrenten wie 2004 Altstar Jan-Ove Waldner oder der eigenen Fairness konnte Boll ausgerechnet bei den wichtigsten Spielen seiner Karriere nicht gewinnen. "Gefühlt habe ich immer mehr erreicht, als ich für möglich gehalten hätte und deshalb wäre das vielleicht für viele Außenstehende das i-Tüpfelchen gewesen, aber ich freue mich über die vielen schönen Momente, die ich hatte", sagt Boll heute dazu.
Und der Manager seines langjährigen Clubs Borussia Düsseldorf, Andreas Preuß, fasst es so zusammen, dass dem nichts mehr hinzuzufügen ist: "Man kann immer nur sein Bestes geben. Meistens bleibt der Sport unvollkommen. Aber er hat sicherlich Gold gewonnen in seinem Menschsein."