André Wagenzik hält ein Ikea-Scharnier in den Händen. (Quelle: rbb)

Berlin Wie DDR-Häftlinge für Ikea und Co. produzieren mussten

Stand: 22.04.2025 21:01 Uhr

Als André Wagenzik 1984 bei Ikea ein Scharnier entdeckt, trifft ihn schlagartig die Erkenntnis: Dieses Bauteil hat er als DDR-Häftling unter Zwang gefertigt. Während Ikea Verantwortung übernimmt, schweigen viele andere West-Konzerne. Von Aljoscha Huber

Es ist ein gewöhnliches Scharnier in einem Ikea-Schrank, das André Wagenzik 1984 bei einem Bummel durch das Möbelhaus in West-Berlin erschüttert. Ein ganz normaler Ikea-Schrank, wie er wohl millionenfach in Haushalten auf der ganzen Welt steht. Doch das Scharnier, hier in dem Möbelhaus in Berlin-Spandau zu sehen, ergibt für André Wagenzik keinen Sinn. Denn er kennt diese Scharniere aus seiner Zeit im Stasi-Gefängnis in Naumburg. Als politischer Häftling der DDR hat er sie dort produzieren müssen.
 
Schätzungen, auf die sich die Bundesregierung 2023 berief, gehen von 180.000 bis 350.000 Menschen aus, die in DDR-Gefängnissen als politische Häftlinge einsaßen. Sie mussten unter teils menschenverachtenden Bedingungen Zwangsarbeit leisten. Davon profitierten auch West-Konzerne wie Ikea.
 
Ende Januar 2025 hat der Bundestag die Einrichtung eines bundesweiten Härtefallfonds für Opfer der SED-Diktatur beschlossen. Ikea hat nach einigem Ringen zugesagt, sechs Millionen Euro in diesen Härtefallfonds einzuzahlen. Doch es ist bisher das einzige Unternehmen, das in dieser Form seine Verstrickung in die DDR-Zwangsarbeit anerkennt.

André Wagenzik. (Quelle: rbb)

André Wagenzik saß wegen ‚Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit’ in der DDR ein.

Sechs Tage die Woche Zwangsarbeit

Viele politische Gefangene in der DDR saßen wegen des Verdachts der sogenannten Republikflucht oder anderen vermeintlich politscher Delikte im Gefängnis. André Wagenzik musste wegen "Beeinträchtigung staatlicher Tätigkeit" einsitzen. "Ich war jung, voller Tatendrang und wusste, dass es noch eine andere Welt als die DDR gibt", erinnert sich der Berliner. Doch seine Ausreiseanträge werden alle abgelehnt. Im August 1983 wird er plötzlich von der Stasi verhaftet. In einer Pankower Kneipe hat er "nach dem fünften oder sechsten Bier" mit anderen Ausreisewilligen laut darüber nachgedacht, wie man den Ausreiseanträgen mehr Nachdruck verleihen könnte. Es seien lose Träumereien gewesen, erinnert er sich. "Im Nachhinein war klar, dass an dem Abend jemand dabei war, der für die Stasi gearbeitet hat."
 
Wagenzik wird zu zehn Monaten Haft im Stasi-Gefängnis in Naumburg (Sachsen-Anhalt) verurteilt. An sechs Tagen die Woche wird er von dort in einem vergitterten Bus durch die Stadt zur MeWa gekarrt, dem Volkseigenen Betrieb Metallwaren Naumburg – ein Zulieferbetrieb für Ikea. Die Gefangenen stellen Möbelkleinteile her. Die Arbeitsbedingungen sind hart. Immer wieder kommt es zu schweren Schnittverletzungen und Quetschungen der Finger. Wer sich widersetzt, bekommt Probleme: André Wagenzik erzählt von Mithäftlingen, die von Wärtern verprügelt werden.

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Er kann nicht glauben, dass West-Konzerne profitierten

André Wagenzik wird im April 1984 von der BRD freigekauft und zieht zurück nach Berlin, in den Westteil der Stadt. Hier entdeckt er beim Bummel durch Ikea das Scharnier aus der MeWa-Produktion. "Ich war total aufgelöst", erinnert sich Wagenzik. "Ich hatte das Teil zehn Stunden am Tag in der Hand. Dazu die Angst. Das prägt sich ein." Er berichtet damals einem Freund, doch der wiegelt ab: "Kann nicht sein." Auch er selbst hat Probleme damit, einen sinnvollen Zusammenhang herzustellen: "Ich konnte es mir nicht erklären. Es war völlig außerhalb meiner Vorstellungskraft, dass Firmen aus dem Westen Produkte von Zwangsarbeitern in der DDR herstellen ließen."

Archivbild: Der Innenhof der Gedenkstätte Lindenstraße 54. Die Gedenkstätte erinnert in einem ehemaligen Gefängnis- und Gerichtsgebäude an politische Verfolgung und Haft in der NS-Diktatur, der sowjetischen Besatzungszone und der DDR. (Quelle: dpa/Stache)
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Mutmaßliche Verstrickung weiterer Unternehmen

Jahre später formulieren mehrere ehemalige Häftlinge die Vorwürfe an Ikea. 2012 räumt der Konzern nach einer unabhängigen Untersuchung ein, dass in der DDR politische Häftlinge und Strafgefangene unter Zwang Möbel für Ikea herstellen mussten. Demnach sei möglicherweise schon ab 1978, spätestens aber ab 1981, Ikea-Vertretern der Einsatz von politischen Strafgefangenen bekannt gewesen. So berichteten rbb24 und andere Medien.

Dieter Dombrowski. (Quelle: rbb)

Dieter Dombrowski kämpft für Gerechtigkeit

Die Einrichtung des Härtefallfonds ist ein Meilenstein, für den einige Opfer jahrelang gekämpft haben. Dieter Dombrowski gehört zu denjenigen, die weiterkämpfen - und zwar dafür, dass weitere West-Konzerne ihre mutmaßliche Verstrickung in die DDR-Zwangsarbeit eingestehen. Ab 1974 saß er als politischer Häftling im Stasi-Gefängnis in Cottbus, verurteilt wegen "ungesetzlichen Grenzübertritts" und "staatsfeindlicher Verbindungsaufnahme". 1974 hat seine Mutter im Westen einen Herzinfarkt. Dieter Dombrowski will zu ihr, doch seine Ausreiseanträge werden abgelehnt. Der Fluchtversuch fliegt an der DDR-Grenzkontrollstelle Horst auf. Nachdem Dieter Dombrowski 1975 vom Westen freigekauft wird, macht er Karriere in der Politik, sitzt lange für die CDU im Brandenburger Landtag und ist heute einer der Akteure, wenn es um Besserstellung von SED-Opfern geht.

DDR-Kameras in den Otto-Katalogen

In seiner Haftzeit müssen Dombrowski und seine Mithäftlinge in Cottbus Kameragehäuse für den Volkseigenen Betrieb Pentacon stanzen. Häftlinge erleiden Schnittverletzungen oder verlieren Finger. Pentacon stellt die in der DDR legendäre Praktica-Kamera her. Sie ist günstig und wird auch in den Westen exportiert. Ein Blick in die Kataloge von damals verrät: Der westdeutsche Versandhandel Otto verkauft zwischen 1977 und 1980 DDR-Kameras von Praktica. Sind das die Kameras, deren Gehäuse durch die Hände von Zwangsarbeitern gingen?
 
Neben der Fertigungsstelle im Stasi-Gefängnis in Cottbus gibt es noch eine reguläre - ohne Zwangsarbeit - im Pentacon Hauptwerk in Dresden. Am Ende kommn alle Kameras für die Fertigung nach Dresden. Deshalb lässt sich nicht mehr nachverfolgen, welche Gehäuse von Zwangsarbeitern bearbeitet wurden.

Archivbild: Doppelseite des Otto-Katalogs mit Praktica-Kameras. (Quelle: rbb)

Werbung für Praktica-Kamera im Otto-Katalog

Nachweise schwierig

Die Otto Group als Rechtsnachfolger des Otto-Versands bestreitet nicht, dass im Gefängnis in Cottbus eine Produktionsstätte war. Es bliebe jedoch offen, "in welchem Zeitraum und in welchem Umfang die Zulieferung erfolgte". Entscheidend sei, dass auch im Hauptwerk weiter an den Gehäusen gearbeitet wurde: "Bei den vom damaligen Otto-Versand vertriebenen Praktica-Modellen besteht daher eine hinreichend große Wahrscheinlichkeit, dass diese gar keine Teile aus Häftlingsarbeit enthielten."
 
Evelyn Zupke, SED-Opferbeauftragte des Bundestags, sagt dagegen: "80 Prozent der Produktion der Praktica-Kameras ging in den Westen." Allein von den Zahlen her sei es nahezu unmöglich, dass der Otto-Versand keine Kamera verkauft habe, die in Cottbus gefertigt worden ist. Es lässt sich heute nicht mehr rekonstruieren, wie viel in Cottbus produziert wurde, und ob die Teile aus Cottbus in Kameras landeten, die danach von Otto verkauft wurden. "Für die Firma Otto mag es nur eine Fußnote in ihrer Geschichte sein", sagt Evelyn Zupke. "Für die ehemaligen politischen Häftlinge war es eine Weichenstellung für das gesamte Leben."

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Moralische Verantwortung

Dieter Dombrowski geht es nicht um juristische Beweisführung, sondern um die moralische Verantwortung. "Jeder anständige Bürger muss dafür geradestehen, wenn er Mist baut, und das muss für Firmen mit Milliardenumsätzen genau so gelten." Der Ikea-Härtefallfonds sei ein wichtiger Schritt, sagt Dieter Dombrowski, aber abgeschlossen sei sein Kampf nie. André Wagenziks hat ein Fotoprojekt gestartet, in dem er SED-Opfer porträtiert. Die Bilder sind noch bis zum 30. April im Bundestag zu sehen [Externer Link].

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