
Berlin Wie Berlin viele seiner Sozialwohnungen verlor - und warum der Nachschub nicht reicht
Anfang der 1990er Jahre gab es in Berlin Hunderttausende Sozialwohnungen. Heute ist nur noch ein Viertel davon übrig. Trotz Milliarden für den Neubau kann die Stadt den Verlust wohl nur bremsen – eine echte Wende scheitert am System. Von Juan F. Álvarez Moreno
- seit 1990 sind in Berlin mehr als 250.000 Wohnungen aus der Sozialbindung gefallen
- in manchen Stadtteilen wie Gropiusstadt oder Marienfelde ist der Verlust enorm
- der Senat will jährlich 5.000 Sozialwohnungen fördern und den Bestand sichern
- laut Experten ist der Bedarf jedoch viel größer
Jeden Tag gehen im Schnitt in Berlin rund zwölf Sozialwohnungen verloren. Seit Jahren sinkt der Bestand langsam, aber stetig – wie Wasser, das durch ein Loch im Eimer rinnt. Tropfen für Tropfen hat die Hauptstadt seit der Wende drei Viertel ihrer Sozialwohnungen verloren. Im Bürokraten-Deutsch heißt es, sie sind "aus der Sozialbindung gefallen". Für Mieter bedeutet das: Die Wohnung kann teurer werden. Manchmal viel teurer.
85.765 Sozialmietwohnungen zählte die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen Ende 2024 in Berlin, wie sie auf Anfrage mitteilte. Das sind fast 5.000 weniger als im Vorjahr. Bis 2034 werden laut dem Wohnungsmarktbericht der Investitionsbank Berlin (IBB) mehr als 46.000 Wohnungen aus der Sozialbindung fallen.

Kaum noch Sozialwohnungen in manchen Stadtteilen
Mancherorts war der Verlust von Sozialwohnungen besonders eklatant. In der Gropiusstadt in Neukölln war 2010 noch jede dritte Wohnung sozialgebunden – Ende 2023 nur noch 4,4 Prozent. Auch in Marienfelde/Lichtenrade, Kreuzberg-Nord, Märkischem Viertel und Spandau gingen laut Daten der Stadtentwicklungsverwaltung Tausende Sozialwohnungen verloren. Ein positives Beispiel ist Hellersdorf, wo über 1.100 Sozialwohnungen dazukamen.
Als Sozialwohnung gilt eine staatlich geförderte Wohnung für Menschen mit geringem Einkommen. Nur Inhaber eines Wohnberechtigungsscheins (WBS) dürfen sie beziehen. Die Mieten sind gesetzlich gedeckelt und meist deutlich günstiger als auf dem freien Markt. Sie sind zu unterscheiden von den Wohnungen der landeseigenen Wohnungsunternehmen, die auch ohne WBS vermietet werden und teurer sein können. Etwa die Hälfte der Sozialwohnungen gehört privaten Eigentümern, die andere Hälfte den landeseigenen Wohnungsunternehmen.
Mehr als die Hälfte der Haushalte hat Anspruch auf einen WBS
Im Jahr 1990 gab es in Berlin noch fast 350.000 Sozialwohnungen mit einer Mietpreis- und Belegungsbindung. Der jetzige Bestand von kaum 90.000 soll immerhin gehalten werden. Dafür will die Senatsverwaltung für Stadtentwicklung laut eigenen Angaben den Bau von mindestens 5.000 Wohnungen jährlich fördern. Im Jahr 2025 stehen dafür rund 1,5 Milliarden Euro bereit.
Doch das reicht offensichtlich nicht. Zwar besitzen nur etwa 50.000 Berliner Haushalte laut Senatsverwaltung einen gültigen WBS, der ihnen den Zugang zu einer Sozialwohnung ermöglicht. Einen Anspruch darauf hätten jedoch mehr als die Hälfte der Berliner Haushalte (1,1 Millionen), seitdem die Einkommensgrenzen zuletzt angehoben wurden. Die durchschnittliche Kaltmiete in Sozialmietwohnungen lag 2023 bei rund sieben Euro pro Quadratmeter, während die Angebotsmieten auf dem Wohnungsmarkt mehr als doppelt so hoch waren.

Hauptproblem: zeitlich begrenzte Sozialbindung
Und wie lässt sich der drastische Verlust von Sozialwohnungen in der Stadt erklären? Entscheidend ist die zeitlich begrenzte Sozialbindung: Der Staat fördert den Bau von Sozialwohnungen, im Gegenzug verpflichtet sich der Besitzer, Wohnungen an Menschen mit einem WBS zu günstigen Preisen zu vermitteln – meist für 20 bis 30 Jahre. Nach Ablauf der Frist entfällt die Bindung, bei vorzeitiger Rückzahlung von Fördermitteln sogar früher. Die Wohnungen können dann zu höheren Preisen vermietet werden. Experten sprechen von einer "Investitionsförderung mit sozialer Zwischennutzung."
Zudem wurden jahrzehntelang weit weniger Sozialwohnungen gefördert, als notwendig gewesen wäre, um den Bestand zu erhalten. WBS-Berechtigte sind deswegen unterversorgt. Eigentlich bräuchte Berlin im Jahr 2030 etwa 236.000 Sozialwohnungen, wie die Autoren einer Studie im Auftrag des Bündnisses "Soziales Wohnen" im Februar berechneten.
Viele ehemalige Sozialwohnungen an Konzerne verkauft
Doch das war nicht immer so. Nach dem Zweiten Weltkrieg standen in der alten Bundesrepublik Millionen Sozialwohnungen. Dabei war West-Berlin ein Sonderfall, wie Matthias Berndt, stellvertretender Direktor des Leibniz-Instituts für Raumbezogene Sozialforschung, erklärt. Dort habe es in den Siebziger- und Achtzigerjahren eine üppige Förderung für sozialen Wohnraum und Steuerabschreibungen für Investitionen gegeben. "Das hat den sozialen Wohnungsbau – gerade als Neubau – in Berlin für Investoren besonders lukrativ gemacht", sagt Berndt.
Im Osten der Stadt, wo die meisten Wohnungen im Besitz des Staates waren, sah die Lage nach der Wende anders aus: "Die sind nach dem Einigungsvertrag nicht als Sozialwohnung überführt worden, sondern in die Hand von Genossenschaften oder landeseigenen Wohnungsunternehmen gelangt, die zu ähnlichen Bedingungen wie bei einer Sozialwohnung vermieten", sagt Berndt.
Im geeinten Berlin war die Kasse knapp, deswegen entschied sich die Senatsbauverwaltung in den Neunziger- und Nullerjahren für den Verkauf ehemaliger Sozialwohnungen und landeseigener Wohnungsbestände. "Die meisten sind nun in der Hand der Big Five", sagt Wohnraum-Experte Berndt. Gemeint sind größere, private Immobilienkonzerne. "Bei ihnen ist es ziemlich klar: Sie investieren möglichst wenig und ziehen die Mieten möglichst schnell hoch. Also man wohnt da teuer und schlecht."

Rund 14.000 neue Sozialwohnungen seit 2014
Erst seit 2014 fördert das Land Berlin wieder gezielt den sozialen Wohnungsbau. Bis Ende 2024 wurden laut Daten der Investitionsbank Berlin (IBB) 13.998 geförderte Wohnungen fertiggestellt – mit einem bewilligten Fördervolumen von knapp 3,5 Milliarden Euro, ein Großteil davon allein im vergangenen Jahr. Für Neubauten gibt es zinsgünstige Kredite und seit einigen Jahren auch Zuschüsse von bis zu 1.800 Euro pro Quadratmeter. Für eine 60 Quadratmeter große Sozialwohnung kann der Staat also mehr als 100.000 Euro ausgeben, die er nicht zurückbekommt.
Für Wohnraum-Experte Berndt liegt das Hauptproblem im aktuellen Fördermodell. "Das ist quasi ein Fass ohne Boden." Seiner Meinung nach hätte Berlin viel stärker in andere Träger vor Ort und in eine langfristige Bindung investieren müssen. Das Land sollte also lieber Genossenschaften, Stiftungen und die landeseigenen Wohnungsunternehmen statt Privatunternehmen fördern, so Berndt. "Ansonsten ist nach ein paar Jahrzehnten der Fördereffekt verpufft und man fängt wieder von vorne an."
Mehr günstige Mietwohnungen für WBS-Inhaber versprochen
Der Senat will im Rahmen des aktuellen Fördermodells das Angebot an bezahlbaren Wohnungen für WBS-Berechtigte ausweiten, wie eine Sprecherin mitteilte. So ist seit 2017 bei Wohnprojekten über 5.000 Quadratmeter ein Anteil von 30 Prozent der Geschossfläche für Sozialwohnraum vorgesehen.
Außerdem hätten sich große private Wohnungsunternehmen verpflichtet, 30 Prozent der wiedervermieteten Wohnungen an WBS-berechtigte Haushalte zu vergeben. Die landeseigenen Wohnungsunternehmen sollen die Hälfte der neu gebauten Wohnungen als Sozialwohnungen anbieten. Zudem wollen sie zwei Drittel der wiedervermieteten Wohnungen an WBS-Inhaber vermieten.
"Da wird tatsächlich viel Geld reingesteckt", sagt Wohnraum-Experte Berndt. "Und der Senat hat sogar vor ein oder zwei Jahren nochmal die Förderung auch pro Wohnung aufgestockt." Das reiche aber nur um den Bestand knapp zu halten. Um wieder auf 350.000 Sozialwohnungen zu kommen, müsste die Stadt "viel größere Anstrengungen" unternehmen. Aktuell seien die landeseigenen Wohnungsunternehmen, die mehr als 70 Prozent der Sozialwohnungen bauen, jedoch stark ausgelastet, sagt der Experte.
Enteignung als Option?
Berndt verweist auf den erfolgreichen Volksentscheid "Deutsche Wohnen und Co. Enteignen" aus dem Jahr 2021. Die Umsetzung könnte Hundertaussende Wohnungen in die Hand der landeseigenen Wohnungsunternehmen überführen. Diese könnten laut Berndt zu ähnlichen Bedingungen wie Sozialwohnungen vermietet werden. "Das würde die Situation entscheidend verändern", sagt der Experte. "Man kann dazu stehen, wie man will, aber dass das einfach seit über drei Jahren so verschleppt wird, finde ich einen sehr schlechten Umgang mit so einer Möglichkeit."
Der schwarz-rote Senat hatte beschlossen, ein Vergesellschaftungsrahmengesetz auf den Weg zu bringen. Im Januar machte er einen Schritt in diese Richtung und gab ein Gutachten dafür in Auftrag. Laut dem Berliner SPD-Fraktionschef Raed Saleh sollte bis zum Sommer ein Gesetzesentwurf stehen. Die Opposition sprach von einer Verzögerungstaktik.
Es bleibt also vorerst bei den rund 5.000 neuen Sozialwohnungen pro Jahr, die lediglich die auslaufenden Sozialbindungen ausgleichen. In den großen, inzwischen ziemlich leeren Eimer der Sozialwohnungen wird Jahr für Jahr milliardenteures Wasser geschüttet. Doch das Loch wird nicht gestopft.