Theaterstück Hinkemann von Ernst Toller, Regie Anne Lenk mit Moritz Kienemann. (Quelle: Deutsches Theater/Konrad Fersterer)

Berlin Premiere am Deutschen Theater: Ein Mann ist ein Mann

Stand: 26.04.2025 11:12 Uhr

Die Klassiker-Regisseurin Anne Lenk macht aus "Hinkemann", Ernst Tollers düsterer Nachkriegstragödie mit einem Veteranen ohne Genitalien, eine freundliche Tragikomödie mit emanzipierter Ehefrau und Patchwork-Familien-Happy-End. Von Barbara Behrendt

Innig und leidenschaftlich umarmt Grete Hinkemann ihren Mann Eugen, küsst ihn zärtlich. Doch er unterbricht sie skeptisch: "Warum umarmst du mich jetzt?", fragt er. "Weil die Menschen mit Fingern auf mich deuten würden wie auf einen Clown, wüssten sie, wie es um mich bestellt ist? Weil du dich meiner schämst?"
 
Eugen Hinkemann ist ein Bär von einem Mann. Groß, kräftig, stattlich, jung. Die Gesellschaft sieht ihm seine schwere Verletzung nicht an, die der Erste Weltkrieg ihm zugefügt hat. Doch seine Frau Grete tut das sehr wohl. Mit einem Schuss in die Genitalien kehrt er zu ihr zurück, ohne Potenz, ohne Zeugungskraft – wie so viele andere Veteranen zu dieser Zeit.
 
Grete steht ihm bei, wo sie kann, doch auch sie gerät ob der qualvollen Selbstzweifel, der Scham und des Selbstmitleids ihres Mannes an ihre Grenzen: "Ich halt's nicht mehr aus! Du bist kein verlorener Mann. Du bist keine heimliche Krankheit. Ich weiß, du fühlst dich wie ein Hampelmann, an dem sie zu lange gezogen haben, bis er kaputt war. Aber du bist kein räudiger Hund für deine Frau."

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Eine Zukunft ohne Sex, ohne Kinder

Allerdings: Ist ihr Mann wirklich noch ein Mann? Soll das ihre Zukunft sein: ein Leben ohne Sex, ohne Kinder? Als Hinkemanns Freund Paul sie umgarnt, bricht Grete aus und beginnt eine Affäre mit ihm. Während der arbeitslose Eugen keinen Ausweg sieht, als sich auf dem Jahrmarkt zu verdingen – ausgerechnet als Inbegriff des kraftstrotzenden deutschen Helden, der Ratten und Mäusen bei lebendigem Leib die Kehle zerbeißt. Das deutsche Publikum will Blut sehen, ruft der Budenbesitzer. Dabei kann Eugen nach seiner Rückkehr aus dem Krieg doch eigentlich keiner Kreatur mehr ein Leid antun.
 
Es kommen viele Themen zusammen in der düsteren, existenziellen Tragödie "Hinkemann" von Ernst Toller, die er 1921 im Gefängnis schrieb, vom kriegsbegeisterten Nationalisten zum roten Revolutionär bekehrt. Die soziale Not nach dem Ersten Weltkrieg, die Grausamkeit des Menschen, der erst ins Nachdenken kommt, wenn er selbst nicht mehr funktioniert, Geschlechter- und Identitätsfragen. Anschlussfähige Fragen sind es, die die Regisseurin Anne Lenk dazu bewogen haben, dass fast vergessene Drama jetzt am Deutschen Theater zu inszenieren.

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Eine expressionistische Bühne zwischen Gestern und Heute

Die Bühne von Judith Oswald zitiert dabei den hitzigen, grellen Expressionismus, in dem Toller sein Antikriegsstück geschrieben hat. Ein winziger Guckkasten steht im großen leeren Raum, mit schräg zulaufenden Fluchten wie in einem expressionistischen Film der 1920er Jahre. Comicartig wirkt es, wie sich Hinkemann und Grete in grellgrün, der Leitfarbe des Abends, in die Schrägen dieser Küche mit uraltem Kohleofen drücken. Als Grete ihren Ehemann mit dessen Freund betrügt, sitzen beide in einer ebenfalls winzigen Guckkasten-Wohnung – diesmal jedoch mit Playstation und in Bomberjacken.
 
Dieses zeitliche Hin und Her funktioniert auch deshalb gut, weil die Sätze der Figuren in der Gegenwart völlig nachvollziehbar klingen. Anne Lenk hat den Sprachduktus kaum verändert – doch sie führt das schwarze Stück in einen komplett anderen Ausgang als sein Autor. Während Ernst Toller in der überemotionalen, verzweifelten Tragödie schwelgt, in der Grete sich letztlich aus dem Fenster stürzt, weil Hinkemann ihrer und seiner Liebe nicht traut, finden die beiden hier eine gemeinsame Zukunft als Familie: ohne potenten Ehemann, jedoch mit dem Baby des Anderen, das Grete im Bauch trägt.

Neuinterpretation mit Happy End und selbstbewusster Frau

Schon klar, dass die Regisseurin nicht Tollers tiefschwarze Weltsicht übernehmen möchte, sondern einen lichten Ausblick darauf geben will, wie man den Gefängnissen der Identitätszuschreibungen heutzutage entkommen kann. Die Inszenierung glaubt an eine Liebe zwischen Menschen, nicht zwischen Geschlechtern. Allerdings wirkt das süße Happy-End doch arg unvermittelt – sind die Alternativen zum tradierten Männlichkeitsbild bis zu dieser Szene noch gar nicht diskutiert worden.
 
Doch Anne Lenks Neuinterpretation liegt nicht nur im hoffnungsfrohen Ende, sondern vor allem in der Figur von Grete. Die ist bei Lorena Handschin deutlich selbstbewusster, unabhängiger und eigenwilliger als in Tollers Fassung. Lenk entwirft also einmal mehr eine emanzipierte Frauenfigur, die um ihr persönliches Glück kämpft – und um ihren Mann und ihrer Liebe zu ihm.

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Heiterer – aber auch harmloser

Überhaupt versucht Lenk eine deutlich optimistischere, verdaulichere Lesart des Textes, mit allerlei Comic-relief. Der Jahrmarktsbesitzer düst in einem Raketen-Phallus über die Bühne. Eine Gruppe fast nackter Jungs lässt in kleinen Choreografien zwischendurch die Muskeln spielen (schade, dass hier nichts als das gängige männliche Schönheitsideal präsentiert wird). Und selbst die Männer im Wirtshaus sind darauf bedacht, einander ernst zu nehmen und umsichtig zu behandeln – auch wenn sie nicht recht wissen, wie das funktioniert, wenn's ums männliche Gemächt geht.

Das ist heiter, wirkt mitunter aber auch deutlich harmloser als die Vorlage. Und Moritz Kienemann als verstiegener, überempfindlicher Hinkemann, ein Woyzeck-Wiedergänger, ist keine leicht zugängliche Figur.
 
Die Stück-Ausgrabung lohnt sich zwar unbedingt. Schon um zu sehen, wie erschreckend viel uns gerade wieder mit der Weimarer Republik verbindet, kurz vor dem Zweiten Weltkrieg. Wie man auch damals schon um Menschlichkeit bei aller Verrohung gerungen hat, um Liebe jenseits aller Stereotype. Doch das Friede-Freude-Familien-Ende nimmt der Tragödie letztlich auch den Druck seiner existenziellen Nöte und berechtigten Ängste.

Sendung: rbb24 Inforadio, 26.04.2025, 7 Uhr