Morddrohungen wurden an einen Container in Berlin-Lichtenberg geschmiert.(Quelle:rbb)

Berlin Neonazis bedrohen junge Politiker und Aktivisten in Lichtenberg

Stand: 12.06.2025 10:40 Uhr

Ein rechter Mob jagt Schüler durch die Straßen, ein Linken-Politiker wird geschlagen und muss ins Krankenhaus. Berlin-Lichtenberg steht zunehmend im Fokus einer gewaltbereiten Neonazi-Bewegung. Von Roberto Jurkschat

Neuerdings rufen sie ihm auf dem Schulflur seinen Nachnamen hinterher - Jugendliche mit kurzrasierten Haaren, manche mit weißen Schnürsenkeln in schwarzen Sneakern. Neuerdings, sagt Leon W., würde er seinen Nachnamen lesen, mit schwarzem Edding auf Türen im Schulklo geschrieben, neben Nazi-Symbolen und antisemitischen Parolen. "An der Schule wird mir seit Monaten die Botschaft vermittelt, dass ich Angst haben sollte", sagt der 17-Jährige im Gespräch mit rbb|24.

Besucher testen am 25.08.2024 ein Videospiel (Egoshooter) auf der Gamescom 2024 in Köln. (Quelle: Picture Alliane/Panama Pictures/Christoph Hardt)
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Die Aktionen gegen ihn begannen mit einer AfD-Veranstaltung im Februar, wie er sagt. An seiner Schule hatte er Mitschüler:innen aufgerufen, gegen die AfD-Wahlkampfveranstaltung in Schulnähe zu protestieren. "Hier standen wir und hinten, auf der anderen Seite waren Mitschüler auf der AfD-Veranstaltung", erinnert sich Leon W. im Gespräch mit rbb|24, "das war eine seltsame Situation".
 
Anschließend hatten Unbekannte Steckbriefe an der Schule verteilt, von denen auch rbb|24 ein Exemplar gesehen hat. Darauf W.'s Handynummer, sein voller Name und ein Foto: "Kennen Sie diesen Linksradikalen?" steht auf einem der Zettel, die in der Schule herumlagen, am S-Bahnhof Wartenberg und in der Nähe seines Wohnorts hingen.
 
Kurz darauf stand dann, nicht weit von seiner Wohnung, sein Nachname mit Beleidigung auf einem Container.

Kampagne von Rechten gegen linken Aktivisten. (Quelle: privat)

beutel-kampagne

Teenager von Gruppe verfolgt

Dass das Klima in Hohenschönhausen für ihn inzwischen bedrohliche Züge angenommen hat, musste der 17-Jährige aber vor allem in einer Nacht im Mai feststellen, als er am späten Abend noch einmal mit dem Fahrrad losgefahren war, um einen Freund zu treffen.
 
Als beide wieder in der Nähe von W.'s Wohnung waren, hielten sie an, wie er sich erinnert: "Direkt an der Ecke neben dem Wohnhaus stand eine Gruppe schwarz gekleideter, vermummter Leute. Als sie uns gesehen haben, sind sie auf uns zugerannt." W. und sein Freund ergriffen die Flucht, entkamen laut W. nach einigen Minuten knapp. Nun ermittelt die Polizei, wer die Verfolger waren. Für W. ist der Vorfall rückblickend Anzeichen einer zunehmenden Bedrohung durch Rechtsextremisten in Hohenschönhausen - Zahlen der Polizei deuten allerdings auf ein berlinweites Problem mit rechtsextremen Straftaten hin.

Hände halten ein Smartphone fest. (Quelle: dpa)
Berliner Verfassungsschutz beobachtet neue rechtsextreme Gruppierungen
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Zunahme rechtsextremer Straftaten in ganz Berlin

2024 hat die Polizei die höchste Zahl an rechtsextrem motivierten Delikten in Berlin seit zehn Jahren registriert – 2.791 Fälle, ein Anstieg von 20 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Besonders auffällig ist eine deutliche Zunahme an Nötigungen und Bedrohungen. Darüber hinaus stieg die Zahl sogenannter Propagandadelikte. Dazu zählen unter anderem das Verbreiten verbotener Symbole durch Aufkleber oder Schmierereien. Lichtenberg zählte im vergangenen Jahr zu den Berliner Brennpunkten für rechte Straftaten: Im Bezirk wurden in diesem Bereich 246 Delikte gezählt, 2022 waren es noch 147. Bereits im ersten Quartal 2025 wurden bereits 85 rechtsextreme Straftaten dokumentiert, wie die Polizei rbb|24 mitteilte.
 
Auffällig sind auch die Meldungen der unabhängige Plattform "Lichtenberger Register", die für das laufende Jahr nicht nur etliche Schmierereien und Nazi-Sticker aufführt, sondern auch einen Übergriff mutmaßlicher Rechtsextremisten auf das alternative Kulturzentrum WB 13 in der Nähe des S-Bahnhofs Wartenberg bei Weißensee.
 
Dem Eintrag zufolge hielten sich dort während eines Antifa-Treffens Ende Mai zunächst zwei junge mutmaßliche Neonazis auf - beide seien von den Veranstaltenden des Ortes verwiesen worden. Später am Abend sei eine Gruppe von mindestens sechs vermummten Personen "auf bedrohliche Weise" auf den Veranstaltungsort zugelaufen.

Schwarze Springerstiefel mit weißen Schnürsenkeln.
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SPD, Grüne und Linke fordern Runden Tisch

"Der jüngste Übergriff auf das Offene Antifa-Treffen Hohenschönhausen [...] verdeutlicht einmal mehr die anhaltende Bedrohung durch neonazistische Gewalt im Bezirk", heißt es im Entwurf eines Antrags der SPD, Grünen und Linken für der Lichtenberger Bezirksverordnetenversammlung, der rbb|24 vorliegt. Zuvor hatte der "Tagesspiegel" über den Antrag berichtet. In dem Papier ist von einer "anhaltenden Bedrohung durch neonazistische Gewalt im Bezirk" die Rede: "Diese Taten sind keine Einzelfälle, sondern Ausdruck organisierter rechter Strukturen, die gezielt gegen zivilgesellschaftliches Engagement und demokratische Kräfte vorgehen." SPD, Linke und Grüne fordern deshalb eine Wiederaufnahme des Runden Tisches Hohenschönhausen.
 
Wer die jungen Rechtsextremisten in Berlin sind und wie die Szene neue Mitglieder rekrutiert, interessiert auch den Berliner Verfassungsschutz. Dessen Chef Michael Fischer erklärte im Mai im Innenausschuss des Abgeordnetenhauses, junge Mitglieder dieser Gruppierungen organisierten sich in Berlin sich via Telegram oder Whatsapp. Konkret sprach Fischer von "gewaltorientierten, rechtsextremistischen Netzkulturen" – Chatgruppen, in denen sich junge, oft minderjährige Neonazis zu Störaktionen verabreden. Dazu zählten die Gruppierungen "Jung und stark" und "Deutsche Jugend voran", die sich laut Fischer neben der rechtsextremen Partei "Der III. Weg" etabliert haben. Gemeinsam haben sie, dass der Verfassungsschutz sie als "aktionsorientiert" und gewaltbereit einschätzt.

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Mitglied der Gruppe "Deutsche Jugend voran" verurteilt

Einblicke in das Innenleben einer solchen Gruppierung lieferte unter anderem das Verfahren gegen den Berliner Julian M., der im April vom Berliner Landgericht zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und drei Monaten verurteilt wurde. Der 24-Jährige agierte zuvor als leitendes Mitglied der Gruppe "Deutsche Jugend voran".
 
Im September 2024 hatte M. mit weiteren mutmaßlichen Neonazis im Alter von 16 bis 23 Jahren einen Mann überfallen, weil er ein T-Shirt mit der Aufschrift "Antifaschistische Aktion" getragen habe. Die Angreifer hätten versucht, dem Mann das T-Shirt vom Leib zu reißen und ihn dabei auch geschlagen, so die Anklage. Im Oktober habe M. dann aus einer 19-köpfigen Gruppe heraus in der S-Bahnlinie 7 einen Fahrgast mit Schlägen und Tritten traktiert, weil er eine Jacke mit Antifa-Emblem trug. Wie auch die anderen beiden Opfer erlitt der Angegriffene unter anderem zahlreiche Hämatome.

Ich wurde von einem offen rechtsradikal auftretenden Hooligan bespuckt und bedroht.

18-Jähriger Linke-Politiker hinterrücks attackiert

Einen rechtsextremen Hintergrund prüft der Staatsschutz der Berliner Polizei auch nach einem Übergriff auf den 18 Jahre alten Bürgerdeputierten der Lichtenberger Linken, Lasko Schleunung. Mit mehr als 50.000 Instagram-Followern zählt Schleunung zu den bekanntesten Vertretern der jungen Berliner Linken. In den vergangenen Monaten war Schleunung wiederholt mit Anfeindungen konfrontiert – vor allem aus rechtsextremen Kreisen. Drohungen im Netz, Schmierereien an seinem Wohnhaus, aggressives Nachstellen auf dem Schulweg.
 
Ende März wurde er nach Angaben seiner Partei bei seiner ehrenamtlichen Arbeit in deren Geschäftsstelle von "einem offen rechtsradikal auftretenden Hooligan bespuckt und bedroht". Im Mai wurde der Schüler hinterrücks niedergeschlagen, wobei er ein Schädel-Hirn-Trauma erlitt, wie Schleunung rbb|24 sagte.
 
Der Staatsschutz habe ihm empfohlen, sich im Alltag besser zu schützen – seitdem setze er seine Instagram-Posts immer mit einer gewissen zeitlichen Verzögerung ab, um seinen Aufenthaltsort nicht preiszugeben. Kurz nach seiner Entlassung aus der Klinik rempelte den 18-Jährigen ein Unbekannter unvermittelt auf einem Gehweg in Rummelsburg an, beleidigte und bedrohte ihn.

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Messer und Aufkleber beim Kampfsport-Training

Im Gespräch mit rbb|24 erzählt Lasko Schleunung, dass er eine Werbeoffensive der Partei "Der III. Weg" beobachtet habe: Mitglieder hätten vor der Oberschule gestanden, Schüler:innen angesprochen, Flyer und Aufkleber verteilt. Über Whatsapp und Instagram hätten ihm Schüler in den folgenden Wochen immer wieder Fotos zugeschickt: rechtsextreme Aufkleber auf Schultoiletten, Fluren und Schulhöfen in Hohenschönhausen, Marzahn-Hellersdorf, in Weißensee. "Diese Drohkulisse und dieses Klima, das von Neonazis aufgebaut wird, zielt darauf ab, Leute einzuschüchtern, die sich gegen diese Strukturen engagieren. Ich will andere weiter ermutigen und zeigen, dass man sich trotzdem weiter engagieren kann."
 
Als "gefährlich" bezeichnet Schleunung die Mitglieder der neuen Rechten aber auch aufgrund der teils öffentlich unter freiem Himmel stattfindenden Kampfsport-Trainings: In Lichtenberg hatte die Polizei im Juli 2024 ein solches Training von 20 bis 30 Personen im Stadtpark aufgelöst. Wie die Senatsverwaltung für Inneres auf eine kleine Anfrage im Berliner Abgeordnetenhaus erklärte, hat die Polizei dabei ein Springmesser sichergestellt und wurden Aufkleber einer "verbotenen Organisation" beschlagnahmt.

Symbolbild: Menschen nehmen am 03.10.2020 an einer Kundgebung der rechtsextremen Partei «Der III. Weg» in Berlin-Lichtenberg teil. (Quelle: dpa-Bildfunk/Jörg Carstensen)
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"Ich muss jeden Tag aufpassen"

Kampfsport-Training und die Teilnahme an Kampfsportveranstaltungen wie "Kampf der Nibelungen" oder "European Fight Night" nutzen Rechtsextremisten grundsätzlich, insbesondere der "III. Weg" und die NRJ, zur Rekrutierung von Jugendlichen und Interessenten, um sie mit vordergründig unpolitischen Aktivitäten an die rechtsextremistische Szene heranzuführen, hieß es in der Antwort der Innenverwaltung. Personen, die vor Schulen für den "III. Weg" und die NRJ geworben hatten, waren demnach auch Teilnehmer des Kampfsport-Trainings in Lichtenberg.
 
Leon W. sagt, dass ihm mutmaßliche Rechtsextremisten auch schon Post nach Hause geschickt hätten – der Inhalt beleidigend, aber harmlos. Der Moment habe für ihn etwas verändert. "Das heißt, dass ich jetzt jeden Tag aufpassen muss. Immer wenn ich das Haus verlasse und immer wenn ich nach Hause komme."