Symbolbild: Pornografie auf dem Smartphone, aufgenommen am 21.06.2021. (Quelle: Picture Alliance/Jean François Ottonello)

Berlin Berliner Schulsozialarbeiterinnen: "Es gibt eine massive Verbreitung pornografischer Inhalte unter Schülern"

Stand: 13.06.2025 11:43 Uhr

Jugendliche nutzen zu lange und viele Medien? Das an sich ist gar nicht das ganze Problem. Zwei Schulsozialarbeiterinnen einer Berliner Oberschule sind eher wegen massiver Verbreitung - und dem Verkauf - von erotischen Fotos und Videos alarmiert.

rbb|24: Frau Stark* und Frau Heine*, Sie sind Schulsozialarbeiterinnnen und betreuen Teenager an einer Oberschule im Osten Berlins. Wenn Sie per Zeitreise jetzt nochmal jugendlich sein könnten: Würden Sie das wollen?

Stark: Auf keinen Fall. Wegen der unfassbaren Reichweite und des anonymen Kritisierens jeglicher Befindlichkeiten, Bilder oder Meinungen – was zu Mobbing führen kann.
 
Heine: Ich auch nicht. Mich würde die Reizüberflutung komplett überfordern.

Haben Sie selbst Instagram- oder Tiktok-Accounts?

Stark: Ja, wir haben beide einen Insta-Account. Tiktok beide nicht.
 
Heine: Wir haben den Account komplett auf privat gestellt, sind nicht auffindbar und nicht im Kontakt mit Schülern.

Was beschäftigt die Jugendlichen an Ihrer Schule gerade am meisten?

Stark: In erster Linie geht es um Selbstdarstellung. Sie sind damit beschäftigt, im Netz verbreiteten Trends gerecht zu werden. Sie eifern Fake-Profilen nach, in denen es darum geht, schöner, besser oder cooler zu sein.

Und das merkt man ihnen auch im Alltag an?

Stark: Ja, man sieht ihnen optisch – an ihren Outfits, Make-up und Frisuren - immer an, was gerade angesagt ist. Und dann gibt es die Challenges ...

Auch gefährliche Challenges?

Stark: Ja, wie die mit der herbeigeführten Ohnmacht, indem man jemandem die Luft wegdrückt. Das hatten wir hier.

Wie erfahren Sie davon – kommen die Jugendlichen zu Ihnen?

Heine: Ja, sie kommen zu uns. Aber von den gefährlichen Challenges erzählen sie meist nicht von sich selbst, sondern über Dritte. Oder es kommen Schüler, die verstört sind von dem, was sie mitbekommen. Wenn es um harmlose Sachen wie Tanz-Challenges geht, kommen sie fröhlich an und zeigen uns, wie cool sie sind.

Viele Mädchen haben ein extra Profil auf Instagram, bei dem sie TG oder das Wort Taschengeld anfügen. So sehen Männer, dass das Mädchen bereit ist, angeschrieben zu werden, um für ein Taschengeld sexuelle Inhalte von sich zu schicken

Sie als Sozialarbeiterinnen bekommen also eine Menge mit. Wieviel davon kommt bei Eltern oder Lehrern an?

Stark: Die Eltern bekommen meiner Meinung nach sehr wenig mit. Da kommt es aufs Alter und die Herkunft der Eltern an.
 
Heine: Und auf die Beziehung zwischen Kind und Eltern. Aber den Eltern wird es fast unmöglich gemacht, einen tatsächlichen Einblick darüber zu erlangen, was ihre Kinder machen, weil viele Kids gleich mehrere Profile haben – von denen die Eltern nichts wissen.
 
Stark: Es gibt die Eltern-Profile und die eigentlichen Profile. Es geht um Show.
 
Heine: Ja, es ist eine Show für unterschiedliche Zuschauergruppen. Und die Eltern gehören meistens nicht zu der, in der die riskanten oder freizügigen Inhalte gepostet werden.

Und solche Zweit- oder Drittprofile sind normal bei den Jugendlichen?

Stark: Absolut. Und selbst wenn die Eltern ihren Kindern folgen, können diese die Storys und andere Inhalte auf privat schalten. Dann sehen Eltern nur von ihren Kindern gefilterte Inhalte.

Lehrer bekommen auch deutlich weniger mit als Sie beide?

Heine: Ja, in jedem Fall. Der Kontakt findet ja meist im Gruppenkontext statt. Zudem steht das Lehren im Vordergrund. Wenn sie zu uns kommen, geht es meist um Beziehungen – denn wir haben keinen Lehrauftrag. Wir beschäftigen uns mit dem, was im Unterricht hinten runterfällt.
 
Stark: Und wir haben Schweigepflicht. Das wissen die Jugendlichen. Sie wissen, dass sie sich auch mit sehr riskanten Themen an uns wenden können. Solange nicht Leib und Leben in Gefahr ist, bleibt das, was uns einzelne erzählen, bei uns. Wir sind ein Safe Place.

Überall heißt es, Jugendliche agierten gewaltvoller als früher, es gebe mehr Mobbing und die Intensität von Gewalt erlebe eine neue Dimension. Hat sich die Gewalt unter den Jugendlichen an Ihrer Schule in den vergangenen Jahren in Ihren Augen irgendwie verändert?

Heine: Absolut. Ich finde, die Jugendlichen sind viel abgestumpfter dabei.
 
Stark: Weil sie so viel im Anonymen agieren. Da kann man schnell beleidigen und drohen. Dass man immer zurückverfolgt werden kann, ist ihnen nicht bewusst. Hier wurden schon sehr viele Handys von der Polizei eingezogen. Da haben wir mitbekommen, dass die Jugendlichen sich über die Tragweite ihres Tuns überhaupt nicht klar waren.

Der 22-jährige Student Nico telefoniert mit einem Klapphandy.
Ein Leben ohne Smartphone ist möglich
Ein Leben ohne Smartphone ist für viele heute nicht mehr vorstellbar. Doch bei jungen Menschen geht der Trend weg von dem ständigen Begleiter. Manche verlegen ihr Leben verstärkt wieder ins Analoge – mit Tastenhandys. Von Linh Tran, Christina Rubarth und Jenny Barkemehr

Was von dem, was da derzeit passiert, ist in Ihren Augen am gefährlichsten?

Stark: Mobbing. Und es gibt eine massive Verbreitung pornografischer Inhalte unter unseren Schülern. Den Jugendlichen ist meist nicht klar, dass es sich - auch wenn sie in jungem Alter Bilder von sich selbst verschicken, was wirklich massiv passiert - um Kinderpornografie handelt.

Welche Jugendlichen sind Täter, welche Opfer – vermischt sich das? Ist der Gemobbte von gestern der Mobber von morgen? Wie steht es mit dem Alter?

Heine: Wir arbeiten mit Schülern ab der siebten Klasse. Ab da sind all diese Themen präsent. Es gibt häufig die Dynamik, dass Mobbingopfer zu Tätern werden – und dann wieder zu Opfern. Wir haben aber auch die klassischen Opfer und Täter, die in ihrer jeweiligen Rolle bleiben.

Wie erleben Sie männliche Jugendliche – gibt es Platz für Verletzlichkeit oder dominiert das Bild des harten Kerls?

Stark: Es gibt beides. Aber es fällt auf, dass Frauen sich ein gewisses Standing bei den männlichen Schülern erst erarbeiten müssen. Während einem großen starken männlichen Lehrer der Respekt einfach so entgegengebracht wird.
 
Heine: Das erleben wir dann auch oft in der Arbeit mit den dazugehörigen Eltern. Und meiner Beobachtung nach gibt es mehr harte Kerle. Aber vielleicht sind die auch einfach lauter und präsenter. Wir sind ja eher eine Art Feuerwehr und kommen ins Spiel, wenn es brennt. Da geht es häufig um Gewaltvorfälle, die oft mit falsch verstandener Männlichkeit und angeblicher Ehre zu tun haben.

Lehrer sind heute oftmals überfordert. Und man kann ihnen das, was sie leisten müssen, gar nicht abverlangen, weil das gar nicht Teil ihrer Ausbildung ist

Und wie geht es den Mädchen an Ihrer Schule? Sie sollen Social Media ganz anders nutzen als Jungs.

Stark: Ich finde das Sexualisierte bei den Mädchen sehr auffällig. Sie sind unheimlich schnell bereit, intime Inhalte von sich und ihrem Körper zu teilen. Ohne sich zu überlegen, welche Auswirkungen das hat. Viele schicken Bilder von sich an beispielsweise ihren Freund, dem sie "total" vertrauen, obwohl sie ihn erst sehr kurz kennen. Das geht so weit, dass jugendliche Mädchen Instagram-Profile haben, wo sie Bilder und Videos von sich verkaufen.
 
Wir hatten hier an der Schule schon die Taschengeld-Problematik. Da haben Mädchen ein extra Profil auf Instagram, bei dem sie TG oder das Wort Taschengeld anfügen. So sehen Männer, dass das Mädchen bereit ist, angeschrieben zu werden, um für ein Taschengeld sexuelle Inhalte von sich zu schicken. Die Bezahlung läuft dann meist über eine Amazon-Wishlist. Da kaufen die Männer bestimmte Inhalte für die Mädchen und sobald diese die Kaufbestätigung haben, verschicken sie pornografische Inhalte von sich selbst an die Männer.

Und zu Ihnen kommen die Mädchen, die sich damit dann doch schlecht fühlen?

Stark: Nein. Das ist das Problem. Das tut den Mädchen nicht weh. Sie bekommen so ganz einfach Dinge, für die sie sonst lang arbeiten oder bei ihren Eltern betteln müssten.
 
Heine: Sie sind sich der Intimität dessen, was sie da verschickt haben, nicht bewusst. Sie fühlen sich bereichert, weil sie etwas von ihrer Wishlist bekommen haben und dadurch mehr Darstellungspotenzial haben. Sie bekommen ja positives Feedback - beispielsweise für die neuen Schuhe. Das steht für die Mädchen vor der Sensibilität der Inhalte, die sie geteilt haben. Wenn sie darunter leiden, dann wenn Klassenkameraden rausbekommen, wie genau sie an die Dinge gekommen sind. Dann können sie deshalb gemobbt werden.
 
Stark: Und darüber hinaus werben sie sich gegenseitig an. Indem sie der nächsten Generation Mädchen zeigen, wie das läuft. Da geht es um schnell verdientes Geld, ohne sich anfassen zu lassen.
 
Heine: Es gibt sogar Vergleiche untereinander, wer für welche Ware wie wenig oder viel filmen oder fotografieren musste. Daran wird der Wert des eigenen Körpers gemessen.

Also sie checken gegenseitig ab, ob die Must-Have-Sneakers für ein Fuß-Foto oder gegen ein intimes Bild in der Post gelandet sind?

Stark: Ja. Aber es geht nicht um künstlerische Fuß-Fotos oder Oben-ohne-Fotos. Es geht um harte pornografische Inhalte. Auch das haben an unserer Schule von der Polizei konfiszierte Handys gezeigt.

Wer sind die Käufer?

Heine: Erwachsene Männer.

Symbolbild: Jugendliche langweilen sich auf einer Parkbank vor der Tauben Nahrung suchen. (Quelle: IMAGO/Christoph Hardt)
"Unsere Jugendlichen fühlen sich nicht gesehen, nicht akzeptiert und nicht gehört"
Eine aktuelle Sozialstudie belegt, wie machtlos und unbeachtet sich viele Jugendliche in Deutschland fühlen. Wie sehr, hängt auch vom Sozialstatus der Familien ab. Eine Sozialpädagogin aus dem Berliner Wedding erzählt im Interview aus ihrer Realität.mehr

Und die männlichen Schüler, bekommen die auch für irgendetwas Geld?

Heine: Wir hatten schon den Fall, dass Jungs Mädchen quasi dazu animiert haben, diese Inhalte auf Instagram zu verkaufen. Die Jungs selbst schicken eher ihrer Freundin Genitalbilder. Wenn die sich drei Tage später trennt, kennt die ganze Klasse die Fotos und unter Umständen werden sie erpresst damit.

Was wünschen Sie sich, wenn es um die emotionale Gesundheit von Jugendlichen hinsichtlich Social Media geht?

Stark: Mehr Geld für Präventionsprogramme und Aufklärung. Nicht nur für Kinder, auch für Eltern. Man müsste alle ins Boot holen. Es bräuchte definitiv auch mehr Schulsozialarbeiter. Wir werden überrollt von Fällen, die wir nicht so ausführlich betreuen können, wie wir das müssten.
 
Heine: Es müsste eine engere Zusammenarbeit zwischen Jugendhilfe und Schule geben. Prävention dafür müsste im Lehrplan implementiert werden. Damit nicht immer abgewogen werden muss, ob für ein tolles Präventionsprojekt doch zu viel Schulstoff ausfällt. Man müsste die Schüler nicht nur kognitiv und intellektuell auf ihr Leben vorbereiten, sondern auch lebenspraktisch.

Stark: Damit müsste man in der Grundschule anfangen. Man müsste lehren, welche Gefühle es überhaupt gibt, wie sie miteinander in Verbindung stehen, was Warnsignale sind. Unsere Jugendlichen sind so unterversorgt dahingehend, dass sie gar nicht begreifen, was ihnen geschieht.
 
Heine: Und man müsste an die Ausbildung der Lehrkräfte ran. Sie müssten viel mehr sozialarbeiterischen Input bekommen. Die Lehrer sind oftmals überfordert. Und man kann ihnen das, was sie leisten müssen, gar nicht abverlangen, weil das gar nicht Teil ihrer Ausbildung ist.
 
Vielen Dank für das Gespräch.
 
Das Interview führte Sabine Priess, rbb|24
 
 
 
* Namen von der Redaktion geändert

Sie wissen von anderen oder ähnlichen Fällen, in denen Kinder oder Jugendliche sich auf Social Media in Gefahr bringen? Senden Sie uns gerne eine Mail: internet@rbb-online.de