Eine Lehrerin in einer Grundschulklasse

Baden-Württemberg SWR-Umfrage: Grundschüler mit teils gravierenden Defiziten

Stand: 11.06.2025 16:02 Uhr

Erstklässlerinnen und Erstklässler haben heute deutlich mehr Defizite als noch vor zehn Jahren. Das sagen fast neun von zehn Grundschullehrern in BW und das betrifft nicht nur die Städte.

Von Jan Lehmann, Nikolaus Rhein

Immer mehr Kinder sind bei ihrer Einschulung nicht schulreif. Sie haben motorische Schwierigkeiten, können sich schlecht konzentrieren, sind verhaltensauffällig oder haben Sprachprobleme. Aufsehen erregt hatte vor zwei Jahren die Gräfenauschule in Ludwigshafen: Dort war 2023 jeder dritte Schulanfänger "sitzen geblieben". Ein Extremfall, doch die Probleme betreffen längst nicht nur Brennpunktschulen in den Städten. Auch im ländlichen Raum sind die Defizite deutlich spürbar. Etwa an der Jengerschule in Ehrenkirchen (Kreis Breisgau-Hochschwarzwald).

Auch im ländlichen Raum haben Erstklässler zunehmend Probleme

Erstklässlerinnen und Erstklässler haben heute mehr Defizite als noch vor zehn Jahren. Das geben rund 90 Prozent der Grundschullehrerinnen und Lehrer an, die an einer SWR-Umfrage teilgenommen haben. Bundesweit haben sich rund 6.000 Pädagoginnen und Pädagogen daran beteiligt, knapp 500 davon aus Baden-Württemberg. Eine von ihnen: Carmen Forell. Sie ist Lehrerin an der Jengerschule.

Grafik einer SWR-Umfrage unter Lehrpersonal zu Defiziten von Erstklässlern.

In BW sind 85 Prozent der Grundschullehrer der Meinung, dass die Defizite bei Erstklässlern in den letzten zehn Jahren zugenommen haben.

"Eine ganz durchschnittliche Grundschule", wie sie sagt, in einem eher ländlich geprägten Raum südlich von Freiburg. Mit Kindern aus akademischen und weniger gebildeten Haushalten und so manchen mit Migrationshintergrund. "Dennoch gibts bei uns immer mehr Schwierigkeiten, was das Verhalten angeht", sagt Forell. Und auch die Kompetenzen, die die Kinder mitbringen, nähmen ab. Besonders die Fähigkeit, sich zu konzentrieren.

Die Konzentrationsfähigkeit ist ein TikTok-Video lang. Carmen Forell, Grundschullehrerin in Ehrenkirchen

Sprachprobleme, aber auch Konzentrationsschwächen nehmen zu

Pro erster Klasse seien zwei bis drei Kinder nicht schulfähig, ergänzt Schulleiter Gerd Günther. Oftmals sei das bereits im Kindergarten offensichtlich, doch viele Eltern seien "beratungsresistent" und schulten ihre Kinder trotzdem ein.

Eine Lehrerin in einer Grundschulklasse

Immer mehr Grundschüler haben Probleme mit der Motorik, dem Sprechen oder sind verhaltensauffällig - das hat eine SWR-Umfrage unter Lehrerinnen und Lehrern ergeben.

Junge Schulanfänger tun sich zunehmend schwer, sich in die Klassengemeinschaft mit festen Regeln zu integrieren, beobachtet Carmen Forell. Wenn auch längst nicht alle - aber die Zahl der Problemfälle nimmt zu. Und: "Wir haben mehr Kinder, die zu Hause nicht die Alltagssprache Deutsch sprechen - das spüren wir ganz stark." Besonders Flüchtlingskinder hätten es beim Schulstart naturgemäß schwer.

Digitale Medien bremsen die Entwicklung der Kinder

Aber die Integration von ausländischen Kindern ist eben nur ein Teil des Problems. Das vielleicht größte Problem ist das, was die Lehrerin "eine veränderte Lebenswelt" nennt. Gemeint ist vor allem der exzessive Gebrauch von Handy, Tablet und Co. "Man merkt, dass sie sich weniger draußen bewegen, dass in den Familien weniger gebastelt, gemalt, gewerkelt oder gekocht wird", beobachtet Forell. Das wirke sich auf ihre motorischen Fähigkeiten aus, vor allem aber auf die Konzentrationsfähigkeit.

Eine Lehrerin an der Tafel in einer Grundschulklasse

Alle Augen auf mich: Lehrerin Carmen Forell muss zunehmend um die Aufmerksamkeit ihrer Klasse kämpfen.

Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, nennen die Grundschullehrer in der SWR-Umfrage als eines der größten Probleme - neben Verhaltensauffälligkeiten und Sprachdefiziten. All das hat zur Folge, dass die Aufmerksamkeitsspanne der Kinder immer kürzer wird. Dass sie lernen, mit den allgegenwärtigen Bildschirmen umzugehen, ist für Carmen Forell ein wichtiger Schlüssel. Ihre Empfehlung an die Eltern ist klar: "So wenig wie möglich."

Wunsch: Mehr Frühförderung im Kindergarten - und in den Familien

Schulen wie die Jengerschule in Ehrenkirchen bemühen sich nach Kräften, Kinder mit Startschwierigkeiten zu fördern. So gibt es enge Kooperationen mit den örtlichen Kindergärten. Es gibt Förderunterricht, Lesepatinnen und Sozialdienstleistende, die sich mit kümmern. Doch all das reicht noch nicht. Es fehle an gut ausgebildetem Personal, sagt Forell. Aber nicht nur die Politik sei gefragt: "Wenn die Familien nicht mitziehen, dann ist die Schule am Ende. Das ist dann sehr frustrierend für uns", so die Lehrerin.

Ein Wunsch steht für sie - wie für nahezu alle Grundschullehrer - aber ganz oben auf der Liste: Dass die Kinder bereits im Kindergarten besser gefördert werden. So wünschen sich über 90 Prozent der Umfrage-Teilnehmenden eine verpflichtende Vorschule für alle förderbedürftigen Kinder nach Hamburger Vorbild.

So funktioniert die Vorschule in Hamburg
Etwa anderthalb Jahre vor der Einschulung werden Schulanfänger in Hamburg zusammen mit ihren Eltern zu einem Kennenlerngespräch an der regionalen Schule eingeladen. Das ist für alle Kinder im Alter von viereinhalb Jahren Pflicht. Eltern können hier Fragen zur Einschulung stellen, die Schulen schätzen die Entwicklung des Kindes ein. Wenn ein Kind als noch nicht schulfähig eingeschätzt wird, muss es in eine Vorschulklasse - oder in eine Kita - die eine extra Sprachförderung anbietet.

ARD-Doku aus der Gräfenau-Schule in Ludwigshafen

In der ARD-Doku "Schulverlierer – Abgehängt schon in der Grundschule?" begleiteten Journalistinnen der ARD ein Jahr lang eine erste Klasse an der Gräfenau-Schule in Ludwigshafen. (Am Mittwoch, 11.06., 22:50 Uhr, im Ersten oder hier jederzeit in der ARD-Mediathek streamen.) Vor zwei Jahren macht die Schule bundesweit Schlagzeilen: 37 Erstklässler waren sitzen geblieben - fast jedes dritte Kind. Kein Einzelfall, sondern Ausdruck einer Bildungskrise: Inzwischen scheitern viele Kinder bereits an den Grundfertigkeiten: Stift halten und zuhören. Die ARD Story begleitet exklusiv eine erste Klasse durch das Schuljahr, dokumentiert das Scheitern bisheriger Förderkonzepte und sucht nach Lösungen für einen besseren Übergang von Kita zu Schule.

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