Eine Frau stellt eine Kerze an einem Grab auf einem Friedhof ab.

Baden-Württemberg Abschied in der Pandemie - Hinterbliebene erinnern sich

Stand: 18.04.2025 10:37 Uhr

Frühjahr 2020: Das Coronavirus breitet sich rasant aus, und fordert viele Leben. Fünf Angehörige erinnern sich in einer SWR-Doku an die Abschiede, die ihnen (un-)möglich waren.

"Es ist nicht egal, wie wir von dieser Welt gehen, es ist nicht egal für den Sterbenden und auch nicht für die, die zurückbleiben." Davon ist Anna fest überzeugt. Sie ist eine von fünf Hinterbliebenen die in der Doku "Abschied in der Pandemie - Wie wir gehen, prägt, wer noch bleibt" zu Wort kommen. Sie alle haben Familienangehörige, die an Corona gestorben sind. Bei Anna war es ihr Vater. Er starb im Frühjahr 2020, lebte damals in einem Pflegeheim.

Abschied in der Pandemie - Wie wir gehen, prägt, wer noch bleibt

Strenge Kontaktverbote in Heimen

Dort galten strenge Besuchsverbote. Manche Bewohner waren wochenlang isoliert, um sie vor dem Coronavirus zu schützen. Kaum zu ertragen für die Bewohner und ihre Angehörigen. Oft die einzige Kontaktmöglichkeit: Das Telefon. Auch Johanna und ihr Bruder Iannis konnten nur so mit ihrer Mutter im Pflegeheim Kontakt halten, erzählt Johanna. "Wir versuchten, täglich anzurufen. Zunächst konnte sie auch noch kleine Sätze sagen, wurde dann aber immer schwächer."

Im Verlauf der Woche habe sie nur noch "Ja" gesagt. Auch die Geschwister hätten nicht mehr viel gesagt, ihr aber Abendlieder vorgesungen. Diese Telefonate seien unheimlich wichtig für ihre Mutter gewesen. Einmal habe ein Pfleger zurückgemeldet, die Mutter hätte nach dem Telefonat das Telefon gestreichelt.

Besonders viele Coronafälle in Heimen

Da war die Mutter von Johanna und Iannis schon an Corona erkrankt. Wie so viele Heimbewohner in dieser Zeit. Mitte April 2020 veröffentlichte das Robert Koch-Institut (RKI) erstmals Zahlen dazu. Mindestens 14.228 Coronafälle gab es damals in Alten- und Pflegeheimen sowie anderen Betreuungseinrichtungen und Massenunterkünften.

Die Zahlen dürften allerdings erheblich höher gewesen sein, da bei 41 Prozent aller Meldungen Angaben dazu fehlten, in welchen Einrichtungen die Infektionen aufgetreten waren. Die Gewerkschaft ver.di kritisierte damals, dass es vielerorts in Alten- und Pflegeheimen noch an Schutzkleidung fehle. Auch in dem Heim, in dem die Mutter von Johanna und Iannis untergebracht war.

Zu wenig Schutzkleidung

Als der Anruf kam, ihre Mutter liege im Sterben, kam auch direkt die Ansage: Nur eines der beiden Kinder dürfe die Mutter nochmal sehen. Der Grund: Zu diesem Zeitpunkt gab es zu wenig Schutzkittel. Die Geschwister versuchten verzweifelt, irgendwo noch Schutzkleidung aufzutreiben, zum Beispiel in der Nachbarschaft und in Apotheken - ohne Erfolg. Johanna musste draußen bleiben. Auch ihr Versuch über ein Fenster im Garten mit ihrer Mutter zu sprechen, wurde abgelehnt.

Zu groß war die Verunsicherung der Heimleitung, was man darf und was nicht. Man habe der Leitung deutlich angemerkt, dass sie sich bei ihrem 'Nein' unwohl gefühlt habe, erzählen die Geschwister. Doch es blieb beim 'Nein'. Ein weiterer Besuch von Familienangehörigen war nicht möglich. Iannis landete in der Rolle der Kontaktperson, war danach in Quarantäne. Er sagt: "Ich war verunsichert, wie ich mich verhalten soll. Die halbe Stunde, die ich da war, war ich plastikverpackt. Haarhaube, Handschuhe, Fließkittel und ich sollte die zwei Meter Abstand einhalten." So waren die Vorgaben.  

Johanna stand derweil draußen im Garten und hat gesungen, versuchte ihrer Mutter so nah wie möglich zu sein. 50 Meter Gartenabstand, den gab es, erzählt sie, aber für das, was sie mit ihrer Mutter verbinde, gäbe es keine Mauer. Ihr Bruder habe währenddessen versucht, die halbe Stunde, die er hereindurfte, für ihre Mutter irgendwie gut zu machen. "Die Nähe zu schenken, um die wir sonst so gerungen haben."

Fast die Hälfte aller Coronatoten in Heimen

Das Heim, in dem Annas Vater untergebracht war, war deutlich kulanter. Jeder versuchte damals nach bestem Wissen und Gewissen zu entscheiden. Es waren schwere Entscheidungen, denn in den Heimen starb damals fast jeder fünfte, der sich mit Corona infiziert hatte. Bis April 2020 gab es in Heimen und Betreuungseinrichtungen schon mindestens 1.491 Todesfälle durch das Virus. Das war damals laut RKI ein Drittel aller Todesfälle in Deutschland.

Im Laufe der Pandemie stiegen die Zahlen weiter an. In den Jahren 2020 und 2021 wohnte fast die Hälfte aller Coronatoten in Deutschland zuvor in einer Pflegeeinrichtung, so der Barmer Pflegereport von 2023.

Völlige Isolation

Auch Anna bekam im November 2020 einen Anruf: Ihr Vater werde das Virus nicht überleben. "Darf ich zu ihm?", war ihre erste Reaktion. Die Pflegekraft am Telefon habe ganz kurz gezögert und dann gesagt: Ja, kommen Sie. Sie sei mit dem Gefühl hingefahren: "Hoffentlich lebt er noch, wenn ich im Pflegeheim ankomme." Nur unter strengsten Hygienevorschriften durfte sie in das Zimmer ihres Vaters. Mit Schutzkleidung, ohne etwas mit hinein zu nehmen außer ihrem Handy. Keine Kleidungsstücke, keine Taschentücher, keine Verpflegung.

Ihr Vater sei zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr ansprechbar gewesen, aber sie ist sich sicher: "Er hat mich gespürt." Alle dachten, er stirbt noch in dieser Nacht. Doch so war es nicht. Anna war drei Tage und Nächte mit ihm in seinem Zimmer. "Völlig isoliert, ohne die Möglichkeit zu haben, mich umzuziehen oder an die frische Luft zu gehen." Geschlafen habe sie auf zwei Stühlen, die sie zum Bett ihres Vaters geschoben hatte. "Es war so besonders, dass mir so viel Nähe möglich war. Bis auf die Handschuhe, die ich tragen musste, war ich mit ihm eigentlich immer in Körperkontakt. Ich konnte ihn immer im Arm halten und nachts meine Hand auf seine Schulter legen", erzählt sie wehmütig.  

Es war so besonders, dass mir so viel Nähe möglich war. Bis auf die Handschuhe, die ich tragen musste, war ich mit ihm eigentlich immer in Körperkontakt. Anna, hat ihren Vater in der Corona-Pandemie verloren

Sein Tod sei für sie dadurch eher greifbar gewesen, weil sie dabei war, ihn anfassen und seine Atmung sehen konnte. Für ihre Familie, insbesondere ihre Mutter, sei es viel schwerer zu begreifen gewesen. "Ist er wirklich nicht mehr da? Also dieses: Kann doch nicht sein, warum ohne mich, warum war es mir nicht möglich, bei ihm zu sein?", sagt Anna.  

Körperlich und psychisch seien diese drei Tage und Nächte bei ihrem Vater eine Ausnahmesituation gewesen. Die Pflegekräfte hätten sich irgendwann Sorgen um sie gemacht, ihr vorgeschlagen, nach Hause zu fahren, sich auszuschlafen und zu duschen. Aber sie habe viel zu viel Angst gehabt, nicht mehr herein zu dürfen. Für sie war klar: "Ich gehe aus diesem Zimmer nicht mehr raus." Am nächsten Morgen sei ihr Vater verstorben.

Hilflos ausgeliefert

"Es war mir immer bewusst, dass ich mich irgendwann von ihm verabschieden muss. Diesen Gedanken habe ich nie verdrängt. Aber sein Tod durch die Pandemie, durch diese Infektion, das hat was Tragisches, weil es uns gezeigt hat, wie hilflos, wie machtlos wir waren, wie wenig Gegenmaßnahmen zu diesem Zeitpunkt zur Verfügung standen", erzählt Anna.

Nach dem Tod ihres Vaters blieb sie noch etwa eine Stunde bei ihm, dann habe ihr Mann sie abgeholt. Ohne Anna in den Arm nehmen zu können. Das sei zusätzlich unglaublich hart gewesen. Kein Körperkontakt, kein Trost. Die Vorschrift damals: Abstand zu anderen Menschen, wenn man vorher Kontakt zu Corona-Infizierten hatte - trotz Schutzkleidung.

Einsames Sterben

Auch die Mutter von Johanna und Iannis starb kurz nach dem letzten Besuch. Besonders schwer ist für Johanna "das Nichtwissen, wie ging es ihr denn wirklich alleine? Hat sie in sich Halt gehabt, hat sie sich getragen gefühlt? Mit diesem Wissen oder Nichtwissen vielmehr, muss ich leben." Die beiden Geschwister standen, während ihre Mutter starb, draußen im Garten.

Als sie den Anruf bekamen, dass es zu Ende geht, war klar: rein dürfen sie nicht mehr. "Der Pfleger war richtig panisch als wir sagten, wir halten Totenwache im Garten. Er hatte richtig Sorge, dass wir versuchen reinzukommen", erinnert sich Johanna. "Unser Sarg wurde in das Pflegeheim geschoben und eine halbe Stunde später haben wir sie empfangen, im Sarg verschlossen, dicht", erzählt Iannis.

Der Versuch von Nähe

Beide hätten bunte Handabdrücke auf den Sarg gemacht. Unglaublich wichtig für Johanna: "Die Berührung, die für mich nicht mehr möglich war, das Körperliche, das mir so sehr fehlte, das war über die kleinen Gesten und Handabdrücke noch da." Sie ist überzeugt, irgendwie ist ihre Mutter noch bei ihnen: "Wenn ein Schmetterling vorbei flattert, hat sie mir schon früh gesagt, wenn ich mal nicht mehr bin, aber der kommt, der Schmetterling, dann weißt du, dass ich da bin."

So wie Johanna, Iannis und Anna erzählen in dem Film "Abschied in der Pandemie - Wie wir gehen, prägt, wer noch bleibt" insgesamt fünf Angehörige von ihren schweren Verlusten. Teils anonymisiert, teils offen erkennbar. Den Film von Jana Johnston und Joscha Bitsch findet man in voller Länge in der ARD-Mediathek.

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