
Ernährungsmythen Warum hochverarbeitet nicht gleich ungesund ist
Je natürlicher, desto gesünder: Dieser Ernährungsmythos hält sich hartnäckig. Vor allem hochverarbeitete Lebensmittel stehen daher unter Generalverdacht. Dabei ist das aus wissenschaftlicher Sicht kaum haltbar.
"Hochverarbeitete Lebensmittel: Warum sie so ungesund sind", heißt es in einer Überschrift bei ZDF heute. In der medialen Berichterstattung finden sich zahlreiche Beispiele für Artikel, die auf die vermeintlichen gesundheitlichen Risiken von hochverarbeiteten Lebensmittel hinweisen. "Ungesund", "Risikofaktor", "Gefahr für die Gesundheit", - der Tenor ist meist recht eindeutig. Dabei ist das aus wissenschaftlicher Sicht gar nicht so eindeutig, wie es die vielen Berichte suggerieren.
Keine einheitliche Definition
Das liegt zum einen daran, dass es gar keine einheitliche Definition gibt, was hochverarbeitete Lebensmittel genau sind, sagt Thomas Henle, Lebensmittelchemiker an der TU Dresden. "Aus meiner Sicht gibt es keine 'hochverarbeiteten' Lebensmittel. Für mich ist der ganze Begriff wissenschaftlich nicht definiert." Henle hat sich daher auch in einem offenen Brief dafür ausgesprochen, den Begriff nicht mehr zu verwenden.
Auch Jakob Linseisen, Vorsitzender der Arbeitsgruppe "Stark verarbeitete Lebensmittel" bei der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE), bemängelt, dass es keine "einheitliche und eindeutige Definition" gibt. "Zudem ist es irreführend, wenn Lebensmittel als 'prozessiert' bezeichnet werden, um auf die postulierte minderwertige ernährungsphysiologische Qualität verarbeiteter Lebensmittel hinzuweisen", so Linseisen. Mit einer Wertung verbundene Zuschreibungen wie insbesondere natürlich, frisch oder prozessiert seien für eine wissensbasierte Beschreibung der Lebensmittelqualität völlig ungeeignet.
NOVA-Klassifikation als Grundlage
Meist wird sich sowohl in Studien als auch in Artikeln über hochverarbeitete Lebensmittel auf die sogenannte NOVA-Klassifikation bezogen. Bei dieser Klassifikation werden Lebensmittel nach Art, Umfang und Zweck der industriellen Verarbeitung in vier Gruppen eingeteilt - von unverarbeiteten Lebensmitteln wie Obst, Gemüse und Fleisch in Gruppe 1 bis hin zu den vermeintlich hochverarbeiteten Lebensmittel (ultra-processed foods) in Gruppe 4.
Die Gruppe der hochverarbeiteten Lebensmittel soll dabei industriell hergestellte Produkte umfassen, die aus mehreren Zutaten bestehen. "Zu den Verfahren, die die Herstellung von hochverarbeiteten Lebensmitteln ermöglichen, gehören die Zerlegung von ganzen Lebensmitteln in Substanzen, die chemische Veränderung dieser Substanzen, die Zusammenstellung von unveränderten und veränderten Lebensmittelsubstanzen, die häufige Verwendung von kosmetischen Zusatzstoffen und eine hochentwickelte Verpackung", heißt es in einem Paper.
Weiter heißt es: "Die Verfahren und Zutaten, die zur Herstellung von ultraverarbeiteten Lebensmitteln verwendet werden, zielen darauf ab, hochprofitable (kostengünstige Zutaten, lange Haltbarkeit, hervorgehobenes Branding), bequeme (verzehrsfertige) und äußerst schmackhafte Produkte herzustellen, die alle anderen NOVA-Lebensmittelgruppen, insbesondere unverarbeitete oder minimal verarbeitete Lebensmittel, verdrängen könnten."
Eine praktische Möglichkeit, ein hochverarbeitetes Produkt zu identifizieren, bestehe demnach darin, zu prüfen, ob die Zutatenliste mindestens einen Punkt enthalte, der für die Gruppe 4 charakteristisch sei - zum Beispiel Lebensmittelstoffe, die in der Küche nie oder nur selten verwendet würden oder Klassen von Zusatzstoffen, die das Endprodukt schmackhaft oder attraktiver machen sollen wie Aromen oder Geschmacksverstärker.
"Definition ist nicht wissenschaftlich begründet"
An dieser Einteilung der NOVA-Klassifikation gibt es jedoch starke Kritik. "Die Definition ist nicht wissenschaftlich begründet", sagt Monika Pischetsrieder, Lebensmittelchemikerin an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. "Es gibt keine Studien oder wissenschaftlichen Belege, die zu dieser Einteilung führen." Das zeigten auch Untersuchungen mit Wissenschaftlern, die verschiedene Lebensmittel anhand der Definition der NOVA-Klassifikation den Gruppen 1 bis 4 zuordnen sollten. Denn die Wissenschaftler kamen dabei zu unterschiedlichen Einschätzungen.
"Die Gesamtkonsistenz zwischen den Bewertern war gering, selbst wenn Informationen über die Inhaltsstoffe verfügbar waren", heißt es in einer Studie. Und weiter: "Diese Ergebnisse deuten darauf hin, dass die derzeitigen NOVA-Kriterien keine robusten und funktionalen Zuordnungen von Lebensmitteln ermöglichen."
Brot nur durch Verpackung in anderer Kategorie
Durch die Kriterien der NOVA-Klassifikation kommt es zudem zu fragwürdigen Einteilungen, so die Experten. Beispielsweise werde unverpacktes Brot der Kategorie 3 zugeordnet, verpacktes Brot der Kategorie 4 - selbst bei identischen Zutaten. Denn zur Klassifizierung werden unter anderem auch die Art der Verpackung oder der Verkaufsort als Kriterien herangezogen.
"Man muss kein Ernährungswissenschaftler sein, um zu wissen, dass das keine evidenzbasierte Grundlage hat", sagt Pischetsrieder. Ein Vollkornbrot in einer Plastikverpackung sei nach der NOVA-Klassifikation plötzlich schädlicher als ohne Verpackung. Auch Fleisch- und Milchalternativen landen in der Kategorie 4. "Dabei gibt es keine wissenschaftlichen Studien, die tatsächlich gezeigt hätten, dass diese Produkte schädlich sind." Im Vergleich zu einer Wurst sei die pflanzliche Alternative von den Inhaltsstoffen gesünder. Hinzu komme, dass die Herstellung klimaschonender sei.
"Für mich das krasseste Beispiel ist der gesamte Bereich der Säuglingsnahrung", sagt Henle. Auch diese landen in der Kategorie 4 bei der NOVA-Klassifikation. Zwar sei das Stillen mit der Muttermilch die natürlichste und gesündeste Ernährung eines Säuglings, doch nicht immer sei das möglich. "Und dann ist man auf Säuglingsnahrung angewiesen. Diese kategorisch der Stufe 4 zuzuordnen, ist wissenschaftlicher Unfug und führt zu einer ganz massiven Verunsicherung."
Wie aussagekräftig ist die Studienlage?
Dennoch wird auch in ernährungswissenschaftlichen Studien immer wieder auf das Konzept der NOVA-Klassifikation zurückgegriffen, um die vermeintlichen Folgen von hochverarbeiteten Lebensmitteln für die menschliche Gesundheit zu untersuchen. Und das mit auf dem ersten Blick deutlichen Ergebnissen: Diabetes, Bluthochdruck, Krebs - all diese Krankheiten werden mit dem Konsum von hochverarbeiteten Lebensmitteln in Zusammenhang gebracht. Allerdings sei das Urteil viel zu pauschal, so die Experten.
Denn der Kategorie 4 der NOVA-Klassifikation werden Lebensmittel wie Fertigsuppen oder abgepacktes Brot genauso zugeordnet wie Chips, Wurstwaren und Softdrinks. Dass Studien einen Zusammenhang zwischen hochverarbeiteten Lebensmitteln und gesundheitlichen Risiken feststellen, bedeute noch lange nicht, dass dass auf alle Lebensmittel dieser Kategorie zutreffe, sagt Henle. "Letztendlich führen die Studien zu diesen Ergebnissen, weil auch sehr energiedichte und kalorienreiche Lebensmittel in dieser Gruppe drin sind."
In einer Metastudie wurden die hochverarbeiteten Lebensmittel in Unterkategorien aufgeschlüsselt. Das Ergebnis: Nur bei Süßgetränken und Wurstwaren konnte ein Zusammenhang mit gesundheitlichen Risiken festgestellt werden - bei allen anderen Lebensmitteln der Kategorie 4 nicht. "Dass der Konsum von Cola und Wurst bestimmte Krankheiten fördern kann, ist schon lange nachgewiesen", so Pischetsrieder.
Dass zu viel Salz, gesättigte oder Trans-Fettsäuren und Zucker schädlich sein können - darauf weist die DGE seit langem hin. Das hängt auch mit der hohen Kaloriendichte solcher Lebensmittel zusammen, die Übergewicht fördern können. "Dafür benötigen wir keine neue (NOVA-)Klassifikation", sagt Linseisen.
Pischetsrieder plädiert daher dazu, sich lieber die Zusammensetzung der Lebensmittel anzuschauen, zum Beispiel mit Blick auf deren Salzgehalt. Das gelte unabhängig vom Verarbeitungsgrad eines Lebensmittels.
Keine pauschalen Aussagen möglich
Auch Henle verweist darauf, dass der Verarbeitungsgrad eines Lebensmittels keine pauschalen Aussagen über dessen gesundheitlichen Folgen zulässt. So könne beispielsweise das Erhitzen von bestimmten Lebensmitteln dafür sorgen, dass Vitamine verloren gingen. Auf der anderen Seite sorge das Erhitzen bei anderen Lebensmitteln dafür, das sie für den Menschen besser zu verdauen sind. In wiederum anderen Fällen sorge das Erhitzen erst dafür, dass bestimmte Lebensmittel für den Menschen überhaupt erst genießbar würden.
Linseisen verdeutlicht die Herausforderungen einer Klassifizierung nach NOVA am Beispiel von Brot. "Ein gebackenes Weißbrot ist in seiner gesundheitlichen Wertigkeit nicht mit Roggenvollkornprodukten zu vergleichen. Bei beiden verlief die Verarbeitung aber dennoch nahezu gleichsam über einen Mahlprozess zu einem backfähigen Mehl, mit einer möglichen Zugabe weiterer Zutaten sowie weiteren Prozessschritten und dem wesentlichen Backvorgang zu den finalen Backwaren."
Zudem sei bei vielen Vitaminen und Mineralstoffen belegt, dass eine Be- und Verarbeitung der entsprechenden Lebensmittel zu einer verbesserten Freisetzung (Bioverfügbarkeit) führe. Ein prominentes Beispiel sei Tomatenmark mit dem Inhaltsstoff Lykopin. Die dunkle Farbe des Produkts kennzeichne eine starke Konzentrierung, aber auch Erhitzung. Dennoch gelte es im Allgemeinen als sehr gesund.
"Jedes Lebensmittel individuell betrachten"
Insgesamt halten die Experten fest, dass eine pauschale Bewertung von Lebensmitteln nur aufgrund deren Verarbeitungsgrades nicht sinnvoll ist. "Diese Kategorisierung bringt uns nicht weiter", sagt Pischetsrieder. "Man muss differenzieren und jedes Lebensmittel individuell betrachten." Für den Verbraucher sei das schwierig zu verstehen, weshalb sie anfälliger seien für solche einfachen Botschaften.
Henle sieht in der NOVA-Klassifikation auch ein "Industriebashing". "Die Industrie wird per se als schlecht dargestellt." Es handele sich aus seiner Sicht daher eher um ein ideologisches Konzept, nicht um ein wissenschaftliches. Das Thema sei viel komplexer, weshalb eine Unterscheidung von Lebensmitteln in gut und schlecht rein aufgrund des Verarbeitungsgrads viel zu kurz greife.
Aus Sicht von Linseisen bedarf es weiterer Forschung, um die möglichen Folgen hinsichtlich des Verarbeitungsgrads eines Lebensmittels zu untersuchen. Gute wissenschaftlich Evidenz bestehe hingegen für die Bewertung der Nährstoffzusammensetzung und zum Beispiel den NutriScore zur schnellen Beurteilung der Qualität eines Lebensmittels anhand von wenigen Kenngrößen.