
Missbrauch an Privatschule Was wusste Frankreichs Premier von der Gewalt?
An einer französischen Schule sollen jahrzehntelang Kinder missbraucht worden sein. Der Skandal hat auch eine politische Dimension: Ab heute geht es in einem Untersuchungsausschuss um die Frage, wie viel Premier Bayrou wusste.
Eigentlich wollte Alain Esquerre nur seine eigene Geschichte erzählen: von den Ohrfeigen und den Fußtritten in den Bauch, die er in den 1980er-Jahren als Schüler der Privatschule Notre-Dame de Bétharram einstecken musste. Dann aber beschloss er, im Herbst 2023, in den sozialen Netzwerken nach anderen Opfern zu suchen.
"Ich habe diese Facebook-Gruppe gegründet, nachdem ich zufällig den Aufseher wiedergetroffen hatte, der mich damals angegriffen hat", erzählt Esquerre im Interview mit dem ARD-Studio Paris. "40 Jahre später war er immer noch Aufseher im Internat! Es war mir wichtig, diese Aussagen für die Nachwelt festzuhalten. Vor allem die Zeugnisse von körperlicher Gewalt."
Es geht um Vorwürfe von jahrzehntelanger Gewalt und Missbrauch an der katholischen Schule in Südwestfrankreich. Inzwischen hat Esquerre mehr als 200 Anzeigen gesammelt. Rund die Hälfte davon nicht nur wegen körperlicher Gewalt, sondern auch wegen sexueller Übergriffe bis hin zu Vergewaltigung.

Alain Esquerre vor der Schule Le Beau Rameau, vormals als Notre-Dame de Bétharram bekannt. Esquerre ist Sprecher der Opfer von Bétharram.
Skandal mit politischer Dimension
Seit Mitte Februar hat der Skandal auch eine politische Dimension, denn es geht um die Frage, was und wie viel Premierminister François Bayrou über die Gewaltvorwürfe wusste. Mehrere Kinder des französischen Regierungschefs sind in Bétharram zur Schule gegangen. Bayrous Ehefrau hat zeitweise dort unterrichtet.
Im Februar hatte Bayrou vor den Abgeordneten der Nationalversammlung betont, dass er nie über die Vorwürfe von Gewalt - oder gar sexueller Gewalt - informiert worden sei. Allerdings gibt es Zeugenaussagen, die nahelegen, dass Bayrou in seinen früheren Funktionen als Präsident des Départementalrats und Bildungsminister zumindest von einem Teil der Vorgänge wusste.

An der katholischen Privatschule in Südwestfrankreich soll es über Jahrzehnte Gewalt an Kindern und Jugendlichen gegeben haben.
Auch Bayrous Tochter Opfer physischer Gewalt
Zudem machte Bayrous älteste Tochter Hélène Perlant Ende April öffentlich, dass auch sie Opfer der Gewalt in Bétharram war. Sie betont aber, dass sie ihrer Familie und insbesondere ihrem Vater nie etwas davon erzählt habe.
Im Interview mit dem Radiosender France Inter sprach Perlant von einer "kollektiven Realitätsverweigerung", die auch ihr Vater mitgetragen habe. Bayrou habe die Vorgänge aber nicht bewusst verheimlicht, sagt seine Tochter.
Das System der Gewalt sei für alle dermaßen offensichtlich gewesen, "dass niemand mehr irgend etwas gesehen hat", so Perlant bei France Inter. Auch ihr Vater habe nicht verstehen können, was passierte.
Andere Aussagen Perlants widersprechen den Darstellungen ihres Vaters. So hat sie etwa Kontakte zwischen Bayrou und einem ehemaligen Ermittlungsrichter bestätigt. Dieser Richter untersuchte damals Vergewaltigungsvorwürfe gegen den ehemaligen Schulleiter von Bétharram. François Bayrou dagegen hatte Kontakte zu den Ermittlungsbehörden zuvor abgestritten.

Der Parlamentsabgeordnete Paul Vannier hält die Aussage Bayrous vor dem Ausschuss für essentiell.
Aussage vor parlamentarischem Untersuchungsausschuss
Aus Sicht von Paul Vannier sind die Aussagen von Hélène Perlant mutig - und erhöhen den Druck auf den Premierminister. Vannier ist Abgeordneter der Linkspartei LFI und Berichterstatter im Untersuchungsausschuss der Nationalversammlung.
Vannier wirft dem Regierungschef vor, die Abgeordneten angelogen zu haben. "François Bayrou selbst hat seine Version der Dinge mehrfach geändert, also offenbar die Notwendigkeit gesehen, seine eigenen Aussagen zu korrigieren", so Vannier im Gespräch mit dem ARD-Studio Paris. "Ich denke, es gibt noch immer vieles, das nicht gesagt wurde. Und vielleicht soll genau dieses Nicht-Gesagte Bayrous Verantwortung zur Zeit dieser schweren Vorwürfe verheimlichen."
Für die Aufarbeitung der Fälle sei Bayrous Aussage vor dem Ausschuss essentiell, meint Vannier. Er erwarte, dass die Befragung des Premierministers zu einem "Moment der Wahrheit" werde.
Heute beginnt die Sitzung des Ausschusses. Sie soll klären, was und wie viel Bayrou wusste, was er möglicherweise bewusst verschwiegen hat. Und wie viele Übergriffe er vielleicht hätte verhindern können.