
Letzter Meiler geht vom Netz Wie riskant ist Taiwans Atomausstieg?
In Taiwan geht das letzte Atomkraftwerk vom Netz. Gleichzeitig droht China mit einer Blockade von Energielieferungen. Kann sich Taiwan den Atomausstieg noch leisten?
Mit dem Motorpflug zieht Chang Chin-wen Bahnen über seinen Maisacker. Den Hut tief ins Gesicht gezogen, hat er heute keinen Blick für die malerische Aussicht von seinem Feld. Es liegt auf einer Anhöhe an der Südspitze Taiwans. Auf der einen Seite das Meer und die Strände. Auf der anderen Seite das Atomkraftwerk Nummer 3, wie es in Taiwan genannt wird. Der drahtige Chang war früher ein Berufssoldat. Wenn er über die Atomindustrie spricht, bekommt seine Stimme einen ernsten Unterton.
"Der Wind weht hier manchmal richtig stark", berichtet er. "Bis zum Kraftwerk sind es gerade einmal 500 Meter. Wie schnell wäre bei einem Unfall die Strahlung wohl bei uns?"
Viele Erdbeben in der Region
Taiwan ist eine von Erdbeben geplagte Insel. Auch das Atomkraftwerk Nummer 3 steht nahe einer aktiven Erdspalte. Jetzt endet nach 40 Jahren die Betriebsgenehmigung. Die Regierung macht Schluss mit der Kernspaltung.
Allerdings nimmt die Diskussion um den Atomausstieg gerade noch einmal Fahrt auf. Ende März probte die Volksrepublik China mit einem Manöver eine Blockade Taiwans. Peking will Taiwan notfalls mit Gewalt an sein Staatsgebiet anschließen. Unter diesen Umständen auf die Atomkraft zu verzichten, hält der Abgeordnete Ko Ju-chun von der Oppositionspartei Kuomintang für unverantwortlich.
"Ohne Strom wären wir nicht in der Lage, uns zu verteidigen. Taiwan muss im Ernstfall ausreichend lange durchhalten, bis andere Staaten zu Hilfe kommen", sagt Ju-chun. "Wenn der Strom aber nur für 10 bis 14 Tage reicht, könnte das Taiwan noch unsicherer machen und das Land viel schneller in eine kritische Lage bringen."
Große Abhängigkeit von ausländischen Energielieferungen
Taiwan ist abhängig von Energielieferungen aus dem Ausland. Vor allem von Kohle und Gas. Oppositionspolitiker Ko will die Tür für die Atomkraft offen halten. "Ausgerechnet in Taiwan, wo wir kaum eigene Energiequellen haben, sollen wir auf die Kernenergie verzichten? Ich denke, der vollständige Atomausstieg ist eine Position aus der Vergangenheit."
Quasi in letzter Minute hat die Opposition eine Anhebung der maximalen Laufzeit von Atomkraftwerken durchgesetzt. Künftig ist es möglich, sie noch 20 Jahre länger zu betreiben als bisher, also insgesamt 60 Jahre.
Die Energie-Expertin Lu Tsai-ying erwartet aber nicht, dass Taiwan seinen Ausstiegs-Kurs ändern wird. Sie hat für das staatlich finanzierte Institut DSET in Taipeh die Optionen untersucht. "Wenn man den Zeitaufwand, den Ausbau von Brennelemente-Lagern und die finanziellen Aspekte berücksichtigt, dann wird es für Taiwan sehr schwierig, diesen Weg kurzfristig einzuschlagen", erklärt sie.
Vier Prozent des Stroms kam von Atomkraftwerken
Die Lager für verbrauchte Brennstäbe sind nahezu voll. Und neue Brennelemente müsste Taiwan auch aus dem Ausland importieren. Auch dieser Lieferweg ist angreifbar.
Nur noch vier Prozent seines Stroms erzeugte Taiwan im vergangenen Jahr durch Kernspaltung. Die Regierung schließt diese Lücke durch erneuerbare Energien, vor allem durch große Offshore-Windparks. Im kommenden Jahr soll der Anteil der Erneuerbaren etwa 20 Prozent der Stromerzeugung erreichen. Das Atomkraftwerk Nummer 3 geht daher wie geplant vom Netz.