Ein Bewohner der North Sentinel Island schießt mit Pfeil und Bogen auf den Helikopter, der nach dem Tsunami im Jahr 2004 über die Insel fliegt.

Indiens Andamanen Warum bei Inselbesuch Haft droht - oder Tod

Stand: 18.04.2025 04:44 Uhr

Weil er versucht hat, mit dem streng abgeschirmten Volk auf einer der Andamanen-Inseln in Kontakt zu treten, sitzt ein YouTuber in Indien in Haft. Warum wird das Volk der Sentinelesen so geschützt?

Von Lena Bodewein, zzt. ARD Neu-Delhi

Eine Dose Cola und eine Kokosnuss - das waren die Gaben, die ein Risiko- und Publicity-hungriger YouTuber am Strand von North Sentinel Island abgelegt hat, einer Insel der Andamanen im Golf von Bengalen.

Der US-Amerikaner Mikhailo Polyakov wollte mit dem streng geschützten Volk der Sentinelesen Kontakt aufnehmen und hatte die Insel zuvor länger von einem Boot aus beobachtet. Als es zu keinem Kontakt kam, reiste er wieder ab und hinterließ die eigenartige Zusammenstellung von Konsumgütern.

Mittlerweile sitzt er in Untersuchungshaft in einem indischen Gefängnis und muss mit bis zu acht Jahren Haft rechnen. Und möglicherweise froh sein, dass er noch lebt.

Wunsch nach Abgeschiedenheit

Das bisher bekannte letzte Mal, dass ein Mensch von außen mit den Sentinelesen Kontakt aufnahm, endete nicht gut für ihn: Der US-amerikanische Missionar John Allen Chau wollte den Indigenen im November 2018 die Botschaft Christi bringen - sie aber waren weder am Evangelium noch an ihm interessiert.

Nach einem ersten Versuch drang Chau erneut auf die Insel vor und bezahlte diesmal mit seinem Leben. Die Sentinelesen begruben seine Leiche am Strand.

Den Eindringling zu töten, dürfe nicht als Feindseligkeit ausgelegt werden, sondern als Selbstverteidigung, meint Niklas Ennen von Survival International; die Organisation setzt sich weltweit für den Schutz indigener Gemeinschaften ein.

Die Sentinelesen oder unkontaktierte Völker ganz allgemein sind nicht per se gewalttätig oder feindlich; diese Völker haben den ausdrücklichen Wunsch geäußert, keinen Kontakt zu anderen Gesellschaften zu pflegen, und diesen Wunsch müssen wir respektieren.
Karte North Sentinel Island

Kontaktversuche ohne Erfolg

Etwa 150 unkontaktierte Völker gibt es noch auf der Welt, aber die Sentinelesen gelten als eines der isoliertesten. Seit 55.000 oder sogar 60.000 Jahren lebt es auf diesem rund 60 Quadratkilometer großen Eiland, das Teil der Inselgruppe der Andamanen ist.

Die Briten etablierten auf dem entlegenen Archipel im 18. Jahrhundert einen Marinestützpunkt, später eine Strafkolonie. Doch auch zur Kolonialzeit blieb ein möglicherweise tödlicher Kontakt mit den Bewohnern von North Sentinel Island weitgehend aus.

Nach der Unabhängigkeit Indiens hatte die Regierung ab den 1950er-Jahren versucht, auch dieses Volk an die Mehrheitsgesellschaft anzuschließen und deshalb mit einigen Missionen die Insel besucht, um Gaben am Strand abzulegen.

Aber erfolglos, erzählt der emeritierte Anthropologe Vijoy S. Sahay von der indischen Allahabad-Universität: "Sie haben keine Geschenke angenommen; einmal brachten die Regierungsvertreter ein lebendes Schwein mit und eine Puppe, die für die Kinder gedacht war - das Schwein haben die Sentinelesen getötet und auch die Puppe mit Pfeilen durchbohrt und im Strand verscharrt."

Nur wenig ist bekannt

Es gibt Bilder von Überflügen nach dem Tsunami von 2004, auf denen einige Männer Pfeile Richtung Hubschrauber schießen - das Metall für die Waffen gewinnen die Sentinelesen höchstwahrscheinlich aus auf Grund gelaufenen Schiffen.

So viel nimmt man an, sonst ist kaum etwas über das Volk bekannt: nicht, welche Sprache es spricht oder ob es Gottheiten verehrt; aus vergleichenden Forschungen leiten Anthropologen zumindest her, dass sie Jäger und Sammler sind.

Etwa 50 von ihnen leben wahrscheinlich auf der Insel, höchstens jedoch 300, zumindest Berechnungen zufolge, nach denen mehr Menschen nicht ernährt werden könnten.

North Sentinel Island im Jahr 2005.

Ein Blick auf North Sentinel Island aus der Luft. Sehr viel näher sollte man der Insel auch nicht kommen.

Sperrgebiet um die Insel

Aus Erfahrungen mit den benachbarten Völkern der Onge, Jarawas und Andamanen weiß Anthropologe Sahay, was passiert, wenn die Außenwelt den Kontakt aufdrängt: "Ihr Immunsystem kann mit Viren, Bakterien und Krankheitserregern von außen nicht umgehen"; eine Umarmung, eine simple Erkältung reiche aus, um ein ganzes Volk umzubringen. "Ich habe selbst die wenigen Überlebenden der Jarawas und Andamanen-Völker gesehen; sie haben um Tabak und Rum gebettelt, sie waren alkohol- und opiumsüchtig."

Seit 1996 ist die Insel Sperrgebiet, auf fünf Seemeilen darf sich niemand nähern. Falls doch, endet es tödlich, wie für Missionar Chau oder wie für zwei Fischer, die in ihren Booten zu nah an der Insel schliefen und getötet wurden.

YouTuber Polyakov aus den USA blieb jetzt mit seiner Publicity-heischenden Kontaktaufnahme erfolglos. "Das wäre für beide Seiten brandgefährlich gewesen, ist aber zum Glück nicht passiert", ordnet Ennen von Survival International ein. 

Dabei wurde Polyakov aber von Fischern beobachtet und der Küstenwache gemeldet, die ihn schließlich festnahm. Die Fischer sind stolz auf ihr Handeln, sie sehen es als ihre Aufgabe an, Wilderer oder Abenteurer dieser Art von der Insel fernzuhalten. Doch wie Maheswar Rao, einer der Fischer, meint: "Wir können nicht zu jeder Zeit auf alle achten, aber wir versuchen unser Bestes, diese illegalen Aktivitäten zu stoppen."

Die moderne Welt rückt immer näher

"Ihre Isolation zu durchbrechen, wäre das Unethischste, was man tun könnte", sagt Anthropologe Sahay. Doch in den vergangenen zehn, zwanzig Jahren haben die Fischer beobachtet, dass immer mehr Menschen versucht haben, die Insel zu erreichen.

Und auch Niklas Ennen von Survival International ist besorgt - nicht nur wegen Stunts von Abenteurern, Influencern und Missionaren. In unmittelbarer Nachbarschaft, auf Groß-Nicobar, plant die Regierung ein "Hongkong Indiens" zu errichten, mit Tiefseehafen und 650.000 neu angesiedelten Menschen.

Auf der Insel lebt ein weiteres Volk, das den Kontakt mit der Außenwelt bisher vermeidet. Noch.

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Deutschlandfunk Kultur am 17. April 2025 um 08:18 Uhr.