Annalena Baerbock
analyse

UN-Generalversammlung Baerbock zur Präsidentin gewählt

Stand: 02.06.2025 17:39 Uhr

Die frühere Außenministerin Baerbock ist zur neuen Präsidentin der UN-Generalversammlung gewählt worden - ein Job, der viel diplomatisches Geschick erfordert. Manch ein Kritiker spricht ihr gerade diese Eigenschaft ab.

Von Tina Handel, ARD-Hauptstadtstudio

Sie habe eben "Ecken und Kanten" - mit diesen Worten hat sich Annalena Baerbock an ihrem letzten Tag als Außenministerin von ihrem Haus verabschiedet. Manche dieser Ecken und Kanten seien von den diplomatischen Experten im Ministerium über die Jahre "abgeschliffen" worden, resümierte Baerbock in ihrer Rede Anfang Mai. Nun tritt sie in New York ein Amt an, in dem genau das die spannende Frage wird: Kann sie auch weniger kantig? Oder wird vielleicht genau das ihr in der neuen Rolle auch helfen? Heute wurde Baerbock zur Präsidentin der UN-Generalversammlung gewählt.

Einer, der den Job in- und auswendig kennt, ist Joseph Deiss, ehemaliger Schweizer Bundespräsident und Außenminister - und Präsident der UN-Generalversammlung von 2010 bis 2011. Er beschreibt die Generalversammlung im Interview mit tagesschau.de als "schwerfällige Maschine", vieles sei "festgelegt und festgefahren". Auf der anderen Seite ist seine Erfahrung aber auch: "Wenn man Ideen hat und den Mut, diese durchzuziehen, hat man mehr Spielraum, als man glaubt."

Baerbock reiht sich ein in eine jahrzehntelange Tradition, nach der meist entweder hochrangige Diplomaten oder ehemalige Außenminister den Vorsitz der UN-Generalversammlung übernahmen. Ihre Laufbahn passt also zum Job, einerseits. Und doch ist sie andererseits ein Sonderfall, da sie so kurz nach dem politischen Amt, also ohne Abkühlzeit, nach New York wechselt.

Russland dringt auf geheime Abstimmung

Dass das von einigen Ländern fast schon als Provokation gewertet wird, zeigt die Abstimmung: Diplomatenkreisen zufolge war es Russland, das eine geheime Abstimmung beantragt hat. Sonst wird der Präsidentenjob oft per Akklamation vergeben. Baerbock erhielt 167 Stimmen.

Was kann Baerbock nun erreichen - und wie? Eine erste Note könne man setzen mit der Rede zur Amtseinführung, sagt Joseph Deiss. Baerbock wird ihre im September halten. Da die Amtszeit auf ein Jahr begrenzt ist, müsse man große Projekte danach möglichst schnell angehen, ist ein Tipp von Deiss. Viele Gespräche, viel Networking, offen sein, einen guten internationalen Mitarbeiterkreis haben - darauf komme es an. "Wenn man genug Unterstützerländer findet, kann man auch Themen auf die Tagesordnung setzen", sagt Deiss. "Wichtig ist, dass man nicht als Tausendsassa oder Aktivist auftritt."

Das ist also die eine Seite: die diplomatische, die nicht jedes Land danach bewertet, ob es zu 100 Prozent die Werte der ehemaligen grünen Politikerin teilt. "Es ist ein Rollenwechsel: Baerbock ist dann Diplomatin, keine Außenministerin mehr", sagt auch Patrick Rosenow, Experte in der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Sie müsse überparteilich agieren, könne aber genau dadurch Vertrauen in Deutschland aufbauen. "Das ist eine Art Imagepflege, an der sie mitwirkt", so Rosenow.

Zwei wichtige Abstimmungen in Baerbocks Amtszeit

Diese Imagepflege sei in den kommenden Monaten besonders wichtig, da in Baerbocks Amtszeit zwei entscheidende Abstimmungen fallen: "Deutschland will 2026 für einen nicht-ständigen Sitz im Sicherheitsrat in der Periode 2027/28 antreten", sagt Rosenow. "Da könnte die Präsidentin eine große Rolle spielen, wenn es um das Abstimmungsverfahren geht."

Zudem läuft die Suche nach einem Nachfolger oder einer Nachfolgerin von UN-Generalsekretär António Guterres. Die neue Präsidentin Baerbock könne dabei "den Transparenzprozess vorantreiben, den 2015/2016 einer ihrer Vorgänger - Mogens Lykketoft aus Dänemark - stark geprägt" habe, sagt Rosenow. Zum Beispiel könne sie darauf drängen, "dass Kandidaten Bewerbungsunterlagen einreichen und veröffentlichen sowie sich in der Generalversammlung vorstellen müssen".

Auf dringende Reformen in den Vereinten Nationen weist zudem das jetzt CDU-geführte Auswärtige Amt hin: "Durch die von einigen Mitgliedsstaaten angekündigte Reduzierung der Beitragszahlungen geraten die UN finanziell zunehmend unter Druck", heißt es. Deutschland habe einen "Pakt für die Zukunft" mitverhandelt, jetzt seien Generalversammlung und Präsidentin gefragt, den Prozess voranzutreiben.

Ganz diplomatisch kommt aus dem Auswärtigen Amt, trotz neuer Hausherren, keinerlei offene Skepsis gegenüber Baerbock in der neuen Rolle: Man habe die Kandidatur "ausdrücklich unterstützt" und sehe sie als Teil von "Deutschlands besonderer Verantwortung für die UN". Der Maßstab sei allerdings, dass die Präsidentin "die UN-Mitgliedsstaaten in ihrer Gesamtheit vertritt".

Kritiker nennen Baerbock undiplomatisch

Für all die Abstimmungen und Reformen wird Baerbock Verbündete finden müssen. In den vergangenen Jahren gab es jedoch immer wieder Kritik, sie trete zu undiplomatisch auf, beispielsweise als sie beim Europarat 2023 sagte, man führe "Krieg mit Russland". Starke Reaktionen gab es auch, als sie Chinas Staats- und Parteichef in einem Fernsehinterview einen "Diktator" nannte.

Aber: Die Vereinten Nationen, das sind eben nicht nur die großen Staaten. Jedes Land hat in der Generalversammlung einen Sitz und eine Stimme. Klarer Einsatz auch für kleine Staaten - auch das zählt, wenn Baerbock Mitstreiter finden will. Und das ist dann nicht unbedingt stille oder sanfte Diplomatie.

"Man muss auch Druck ausüben können", sagt Amtsvorgänger Joseph Deiss, "zum Beispiel, wenn sich Länder in Budgetfragen nicht einigen können und die Fristen ablaufen". Genau das habe er in seiner Amtszeit erlebt. Da sieht er eine Stärke der neuen Frau an der Spitze: "Annalena Baerbock ist ja eine energische Frau", sagt Deiss. "Ich glaube, sie hat das Format dafür." Die größte Herausforderung aus seiner Sicht: die Generalversammlung leiten "in einer Zeit, in der kaltblütig Länder wie Russland die Charta der UN mit Füßen treten".  

Künftig kürzere Redezeiten?

Etwas wagen - darum könne es gehen, im Großen wie im Kleinen: "Die neue Präsidentin sollte keine Angst haben, kreativ zu sein oder etwas außerhalb der Tradition zu tun", empfiehlt Joseph Deiss. Der Präsident habe beispielsweise auch die Hoheit über den berühmten Sitzungssaal mit dem Marmorpodium, hinter dem Baerbock nun sitzen wird. "Wir haben damals im Saal die Weltpremiere eines Films über Palästina veranstaltet", erzählt Deiss. Auch so lenke man Aufmerksamkeit auf Themen.

Und es geht um das kleine Einmaleins des Miteinanders in New York: Er habe dafür gesorgt, dass es pünktlich losgeht, sagt Deiss. Das habe erst für ein bisschen Murren gesorgt. "Aber am Ende waren alle froh, dass man bei mir planbar wusste, wann eine Sitzung anfängt und endet."

Einen ersten Vorschlag für mehr Disziplin und gleichzeitig weniger Kosten hat Baerbock schon in ihrer Bewerbungssitzung im April gemacht: "Wir können schon viel Zeit sparen, wenn wir alle eine Minute kürzer reden", schlug Baerbock vor. "Das klingt einfach!" Aber auch Baerbock weiß: Selbst die einfachsten Vorschläge brauchen oft viel Ausdauer und Verhandlungsgeschick.