Schild mit Aufschrift "WARUM?" mit Kerzen und Blumensträußen.

Nordrhein-Westfalen Amoklauf an Schulen vorbeugen: Es fehlt auch hier an Fachkräften

Stand: 11.06.2025 17:44 Uhr

Amokläufe an Schulen wurden meist von Jugendlichen in psychischen Krisen begangen. Bei der Vorbeugung fehlt es an Fachpersonal.

Von Nina Magoley

Wieder ein Amoklauf an einer Schule - diesmal im österreichischen Graz. Elf Menschen wurden dabei getötet, darunter auch der mutmaßliche Täter, ein 21-jähriger ehemaliger Schüler des Grazer Gymnasiums, an dem sich die Tat ereignete. Wie können Schulen sich gegen solche Tragödien wappnen?

Wie schützen sich Schulen in NRW vor Amokläufen?

Herbert Reul, Innenminister NRW im WDR-INterview am 11.06.2025

"Schulen nicht einbetonieren": Innenminister Reul

Amokläufe an Schulen sind hierzulande selten. 15 solcher Taten gab es seit Anfang 2000, fünf davon ereigneten sich in NRW. Die Polizei in NRW sei "sehr gut vorbereitet" auf Amokläufe an Schulen, sagte NRW-Innenminister Herbert Reul (CDU) am Mittwoch dem WDR. Schusswesten und Maschinenpistolen lägen in jedem Streifenwagen. "Aber am Ende bleibt ein Risiko: Dass jemand so schnell ist, dass er schon ein paar Leute erschossen hat, wenn die Polizei eintrifft."

Man könne Schulen nicht "einbetonieren und zu Festungen machen", sagte Reul. Die wichtigste Frage sei: "Warum machen junge Leute das? Wie kommen wir frühzeitig an Informationen, wenn jemand so etwas plant und rumposaunt?"

"Notfallordner" gibt Handlungsanweisungen

Für den Ernstfall gibt es in NRW den sogenannten Notfallordner "Hinsehen und Handeln", der allen Schulleitungen zur Verfügung steht. Darin finden Lehrkräfte genaue Anweisungen, was im Fall eines Amokalarms der Reihe nach zu tun ist.

Ein zweiter Teil, der öffentlich abrufbar ist, befasst sich mit Krisenprävention. Darin geht es beispielsweise um Warnsignale, die darauf hindeuten können, dass ein Schüler oder eine Schülerin in einer Krise steckt, die in Gewalt gegen andere münden könnte.

"Krisenteam" - in NRW nur empfohlen

Warnsignale seien zum Beispiel, dass ein Mensch Rachegedanken äußere, bis hin zu ganz konkreten Drohungen, jemanden umzubringen, sagt die Darmstädter Kriminalpsychologin Karoline Roshdi im WDR-Interview. Häufig kämen solche Warnsignale in Kombination mit Hoffnungslosigkeit und Selbstmordgedanken. Auch Planungen, dass jemand überlegt, wie er an eine Waffe kommt, müsse man ernst nehmen.

Dazu bräuchte eigentlich jede Schule ein Krisenteam, sagt Roshdi. Das Konzept sei nach dem Amoklauf von Erfurt entwickelt worden , bei dem im Frühjahr 2002 ein 19-jähriger Schüler 16 Menschen und anschließend sich selbst erschoss.

In einigen Bundesländern - darunter Bayern und Hamburg - ist ein solches Krisenteam heute verpflichtend. In NRW sei es eine Empfehlung, so ein Sprecher des Schulministeriums. Er verweist aber auf einen neuen "Leitfaden zum Umgang mit Gewaltvorfällen", den das Schulministerium kürzlich allen NRW-Schulen zugeschickt habe. Er könne "als Vorlage für Konzepte zur Gewaltprävention dienen".

Namen auf einem Blatt Papier

Kriminalpsychologin Karoline Roshdi vor weißem Hintergrund

Forscht zu Amokläufen: Kriminalpsychologin Karoline Roshdi

In vielen Schulen bestehe das Krisenteam allerdings nur aus einem Blatt Papier, sagt Roshdi: Mit Namen von Lehrkräften, die im Notfall zuständig sind. Im Idealfall aber seien das aktive Menschen, die darin geschult seien, Bedrohungen zu erkennen und sie "zu entschärfen". Und die von Schülerinnen und Schülern als Ansprechpartner wahrgenommen werden könnten.

Lehrkräfte könnten das nicht alleine leisten, sagt Roshdi. Schulpsychologen seien wichtige Partner, aber auch die Polizei.

"Schüler müssen wissen, an wen sie sich wenden können, wenn sie Angst haben oder sich Sorgen um jemanden machen", so Roshdi, die viele Amokläufe analysiert und ein Buch dazu veröffentlicht hat. Ein geschultes Team müsse sich dann kümmern können, mögliche Gefahren einschätzen und Unterstützung für die Person, die in einer Krise ist, anbieten.

Es braucht an den Schulen eine Kultur: "Wir schauen hin, wir kümmern uns." Plus eine Sensibilisierung der Lehrkräfte und auch der Schüler.

Karoline Roshdi, Kriminalpsychologin

Die Erfahrung mit geschehenen Amokläufen zeige, dass es in den meisten Fällen bereits Warnhinweise gegeben habe, als der spätere Täter noch an der Schule war. "Gleichaltrige bekommen fast immer etwas mit", sagt Roshdi - heutzutage vor allem in den sozialen Medien, in denen sich Schüler austauschen. "Manche teilen das dann mit, manche nicht."

Oftmals mündeten Warnsignale am Ende nicht wirklich in eine Gefahrensituation. "Ein gutes Krisenteam aber kann solche Aussagen bewerten: Bedarf es einer weiteren Analyse oder wurde das vielleicht nur aus einem Affekt oder Spaß heraus gesagt?"

Gutes Schulklima entscheidend

Immer dann, wenn potentielle Gewalttaten verhindert werden konnten, weil sich Schüler vorher mitgeteilt haben, sei das auf ein gut funktionierendes Schulklima zurückzuführen gewesen. "Es gab Ansprechpersonen, Schüler wussten, dass sie ernstgenommen werden - und dass sie keinen Ärger deswegen bekommen."

Krisenteams, die im Ernstfall zuständig sind, Entscheidungen zu treffen, gebe es mittlerweile wohl an allen Schulen in NRW, sagt Sven Christoffer, Vorsitzender des Verbands Lehrer NRW. Ob es sich dabei immer um täglich ansprechbare Personen handelt, sei aber zu bezweifeln.

"Professionelle Unterstützung nicht vorhanden"

In einer Stellungnahme zur Änderung des Schulgesetzes hatte der Verband 2021 festgestellt, dass es vielerorts schlicht an Personal dazu fehle. Zur Entwicklung umfassender Schutzkonzepte auch gegen Gewalt an Schulen müssten "notwendige Ressourcen und die erforderliche Expertise dazu an die Schulen gelangen", teilte der Verband damals mit. Professionelle Unterstützung sei "für derart sensible Themen an den Schulen nicht vorhanden, aber unerlässlich".

Bis heute hat sich die Situation wohl nur wenig gebessert. Lehrer seien nun mal meist keine ausgebildeten Gewaltpräventions-Fachkräfte, sagt Christoffer. Dennoch bliebe diese Aufgabe an den Schulen hängen. Er wünsche sich vom NRW-Schulministerium mehr Unterstützung "durch Expertise von außen".

Auch der "Lehrer:innenverband SchaLL" forderte in einem Statement am Mittwoch die Schulministerin auf, mehr in die Prävention zu investieren. "Die Förderung eines offenen Schulklimas, in dem Warnsignale frühzeitig erkannt und ernst genommen werden, ist von zentraler Bedeutung", heißt es darin. Krisenteams und regelmäßige Schulungen seien unerlässlich. Außerdem sei es "dringend erforderlich, Lehrpersonen durch verstärkte Fortbildungen in Themen wie Social Media, Gaming und Medienkonsum zum Thema Gewalt zu sensibilisieren".

Vorschlag: Sprechstunden beim schulpsychologischen Dienst

Ein Schüler läuft über den Schulhof. Im Hintergrund sind unscharf weitere Schülerinnen und Schüler erkennbar.

Problem: Mobbing und Ausgrenzung

Sven Christoffer von Lehrer NRW plädiert dafür, dass der schulpsychologische Dienst den Schulen mehr Unterstützung geben könnte. Dieser Dienst ist bei den Kreisen und Städten angesiedelt und mit Experten besetzt. Beispielsweise könnte einmal wöchentlich eine psychologisch geschulte Ansprechperson in die Schulen kommen, sagt der Verbandsvorsitzende. Mancherorts seien bereits ähnliche Sprechstunden mit der Polizei vereinbart. An solchen Schulen sei das Gewaltpotenzial deutlich gesunken.

Das Schulministerium verweist auf eben diese landesweit 54 schulpsychologischen Beratungsstellen, die die Schulen bereits unterstützen würden. Und kündigt 54 weitere Stellen für Fachkräfte für "Systemische Extremismusprävention" an, die zum kommenden Schuljahr bereitgestellt werden sollen.

Allerdings war keiner der jugendlichen Amokläufer an Schulen in Deutschland bislang politisch, extremistisch oder islamistisch unterwegs. Es handelte sich ausschließlich um Menschen, denen später von Psychologen etwa eine narzisstische Persönlichkeitsstörung oder Verzweiflung über Einsamkeit und Mobbing attestiert wurde.

Amoklauf üben? Nein!

Von der Idee, Amoklagen an Schulen zu üben, raten die meisten Experten dringend ab. Durch regelmäßige Amok-Übungen könnte "sensibles Täterwissen" entstehen, erklärt das NRW-Schulministerium. Kriminalpsychologin Roshdi ergänzt: Solche Übungen könnten traumatische Effekte bei Schülern und auch bei Lehrkräften zur Folge haben.

Quellen:

  • Statement Innenminister Reul
  • Interview Kriminalpsychologin Karoline Roshdi
  • Interview und Stellungnahme Lehrerverband NRW
  • Statement Lehrer:innenverband SchaLL
  • Stellungnahme Schulministerium NRW